Hans Manndorff
Auswirkungen der Industrialisierung und Verstädterung
auf die indische Kastengesellschaft
Die großen Städte Indiens sind gewöhnlich durch zwei voneinander gänzlich ver
schiedene Areale gekennzeichnet: der ganz nach westlichem Muster angelegte Stadt
kern mit geplanten Straßenzügen, großartigen Bauten und anschließendem Villen
viertel; zu ihm stehen die Außenbezirke mit ihrem unvorstellbar überbevölkertem
Konglomerat von Slum-Dörfern im krassesten Widerspruch. Dieses Stadtbild spiegelt
die wirtschaftliche und politische Entwicklung während der Kolonialzeit wider.
Auch in der Sozialstruktur der Stadt findet man den Niederschlag davon. In den
beiden so verschiedenen Arealen leben zwei ebenso verschiedenartige Klassen des
heutigen Indien. Die eine ist eine westlich gebildete indische Mittelklasse, die natürlich
vorwiegend im Stadtkern lebt. Die andere, unvergleichlich volkreichere Klasse haust
in jenen ausgedehnten Elendsquartieren, in die „moderne städtische Einflüsse“ nur
sehr spärlich eindringen und in denen Merkmale der „Volkskultur“ besonders zäh
erhalten bleiben.
Kurla ist ein solches Vorstadtdorf nördlich von Bombay. Es entstand um die
Jahrhundertwende, als dort eine Baumwollfabrik gebaut wurde. Seitdem ist eine
stete Zu- und Abwanderung von Arbeitern zu beobachten. Besonders bemerkenswert
ist dabei, daß die überwiegende Mehrzahl der Bevölkerung von Kurla aus einem eng
begrenzten Dorfgebiet von Nordsatara (Maharashtra) stammt, von woher sie viele
Züge ihrer ursprünglichen Dorfkultur, ihres Brauchtums, ihrer Wohnweise, ihrer
Trachten, ihrer Kastenordnung und ihres Familiensystems mitgebracht hat. Elier läßt
sich also die Auseinandersetzung zwischen den Traditionen einer nahezu geschlossen
siedelnden Subkultur Indiens mit den formenden Kräften der modernen industriellen
Lebensweise besonders gut analysieren.
Der Vortragende hat 1957 für die Dauer von 6 Monaten mit den Baumwollarbei-
tern von Kurla als teilnehmender Beobachter gelebt und dabei die sozialen Spannun
gen einer genauen Untersuchung unterzogen. Er führt an Hand konkreter, meist selbst
miterlebter Beispiele aus, wie die durch die industrielle Lebensweise formierten neuen
sozialen Kontrollgruppen im Kampf mit der traditionellen Hierarchie oder Rang
ordnung stehen, inwiefern sich ein Wandel im Wertsystem und in der sozialen Struk
tur dieser kleinen Gemeinschaft anzeigt, und auf welch vielverschlungenen Wegen
die Kastengesellschaft nach und nach in eine industrielle Klassengesellschaft umgeformt
i) Da das Thema vom Vortragenden bereits in einem ausführlichen Artikel ver
öffentlicht worden ist (vgl. SOCIOLOGUS, Berlin 1958, Jg. 8, Heft 1, pp. 40 57),
beschränken wir uns hier auf eine kurze Zusammenfassung des Referats,