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Walter Krickeherg
Reliefen aus waagerechten Balken und Kreisen bestehen. Auf der Ostseite des
Steins begleiten die Daten zwei Figuren: eine kniende oder hockende Frau und einen
aufrecht vor ihr stehenden Mann, deren Gesichter zum Teil ausgekratzt wurden und
deren Kopfputz von einer mit Schmuckscheiben besetzten Stirnbinde und dem mixteki-
schen Jahressymbol gebildet werden. Es setzt sich aus Trapez und Strahl zusammen
und gehört ebenfalls zu den Merkmalen älterer Denkmäler auf der Mesa Central und
in Xochicalco, deren Terminus ante quem Alfonso Caso ans Ende des 10. nach
christlichen Jahrhunderts verlegt 21 ). Auch die ganze sonstige Ausstattung der beiden
Figuren ist von der aztekischen grundverschieden und ebenso fremdartig wie der
lange, an beiden Enden ornamental gestaltete Stab, den der Mann neben einem kleinen
Schild mit Scheiben am Rande und langem, unterem Federbehang in den Händen hält.
Diese Szene hängt wahrscheinlich mit dem Relief auf der Südseite des Steins zusam
men. Hier sieht man einen Tempel mit hohem, spitzem Dach aus sorgfältig geschich
tetem Stroh oder Palmblättern und mit pyramidalem Unterbau, dessen Absätze die
für die ganze ältere Architektur Mexicos charakteristische Gliederung in einen ge
böschten Sockel und einen senkrechten, kassettierten Fries aufweisen. Die Pyramiden
treppe ist nach links gekehrt, wo sich eine Fedcrschlange über dem Datum „4 Bewe
gung“ (dem Namen der Sonne) w'ölbt. Auch die Federschlange ist hier ein Symbol
der älteren, vor allem der toltekischen Kunst und stellt den Himmel dar, den die
aztekische Kunst später durch ein abstraktes Symbol, den Sternhimmelfries, verkör
perte; daher ist sie, wie der Sternhimmelfries, auf der Unterseite mit der Hieroglyphe
des Planeten Venus verbunden. Die Tolteken übernahmen die Federschlange aus der
Kunst Teotihuacans, wo sie aber noch nicht den Himmel, sondern Wasser und Vege
tation bedeutete.
Ungefähr gleichzeitig mit diesem Denkmal entstand auf dem Cerro de la Malinche
bei den Ruinen von Tula (Hidalgo), dem historischen Hauptsitz der Tolteken, ein
großes Felsbild, das die toltekische Kunst an einem eindrucksvollen Beispiel zeigt. Es
wurde ziemlich hoch über der alten Stadt in das dunkle, kompakte Gestein gegraben,
das dem Meißel des Bildhauers vier glatte, in stumpfen Winkeln aneinander stoßende
Flächen bot, von denen die beiden mittleren zwei Götterbilder, die seitlichen zwei
Jahresdaten in sehr flachem Relief tragen. Leider hat nicht nur die Verwitterung,
sondern auch die teilweise Zerstörung der Bilder bei der Eroberung Tulas durch die
Chichimeken, die (wie in Maltrata) die Gesichter beider Götter zerkratzten, dazu bel-
getragen, daß sie heute, von unten gesehen, nur noch schwach zu erkennen sind 22 ).
Zur Linken ist die Wasser- und Maisgöttin in voller Vorderansicht wiedergegeben;
dies kommt in der aztekischen Reliefplastik bei Götterbildern ziemlich selten vor, in
der toltekischen dagegen häufig. Die Göttin steht vor einer durch Wellenlinien, Wirbel
und Schneckengehäuse charakterisierten Wasserfläche und hält in der Rechten eine
21 ) García Payón in El Mexico Antiguo IV 7/8 (1939) S. 241—252. Caso ,,E1 calen
dario Mixteco“ in Historia Mexicana V 4 (1956).
22 ) Daher gab es bisher nur Zeichnungen des Felsbildes. Vgl. García y Cubas i. Boletín
de la Sociedad de Geogr. y Estad. 3. Ep. I (1873) Fig. 10; Pcñafiel in den „Monu
mentos del Arte Mexicano Antiguo“ (1890) Tafelband I (Taf.) und Enrique Meyer
in der Revista Mexic. de Estud. Antropol. III 2 (1939).