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TRIBUS 35, 1986
aus anderen Kulturen zu reflektieren, was es bedeutet, in
unserer Gesellschaft Kind zu sein und Kinder aufzuzie
hen. Was der (historisch verfolgbare) Prozeß der Ver-
kindlichung, der Verniedlichung und Ausschließung der
Kinder, wie auch der Mütter, aus vielen Bereichen des
Alltags bedeutet.
Das in Westafrika übliche Nebeneinander von Liebe und
Wertschätzung der Kinder (man hat mir immer wieder
betont: »Nous, on aime trop les enfants!«, als ich mit
meinem Säugling unterwegs war) und der Selbstverständ
lichkeit, mit der sie am Alltag und an harter Arbeit
teilhaben, ist uns sicherlich schwer verständlich.
Ein Postulat an ethnologische Arbeit überhaupt: das
Hinterfragen der eigenen Herkunft und Denkweise, der
Forschungsmotivation, um Vorurteile und Projektionen
transparent zu machen, damit wir bewußter damit umge
hen können (vgl. Devereux).
Trotz dieser methodischen Einwände ist das Buch von
Sabine Dinslage sehr lesenswert, es enthält eine Fülle
von Material. Schön, daß es im deutschsprachigen Raum
eine weitere ethnologische Forschung über Kinder gibt.
Diese sind nicht gerade dicht gesät.
Liselotte Vischer-Roost
Literaturangaben:
Erny, Pierre: L’enfant et son milieu en Afrique Noire.
Paris, 1972.
Devereux, Georges: Angst und Methode in den Verhal
tenswissenschaften. München, 1967.
Tietmeyer, Elisabeth:
Frauen heiraten Frauen. Studien zur Gynae-
gamie in Afrika. Hohenschäftlarn bei Mün
chen: Renner 1985.
Die Arbeit von Elisabeth Tietmeyer befaßt sich mit
Heirat und Ehe, einem sozialen Phänomen, das weltweit
zu finden ist. Doch obgleich das Thema »Ehe«, vor allem
in Verbindung mit »Verwandtschaft« eine wichtige Stel
lung in der ethnologischen Forschung einnimmt, fand der
von Tietmeyer aufgegriffene Aspekt der Frauenheirat
bislang nur wenig Beachtung; und dies, obwohl diese
Institution in Afrika bei ca. 40 verschiedenen Ethnien
anzutreffen ist. Dafür lassen sich mehrere Gründe anfüh
ren: zum einen ist der Problembereich, der grob mit
»Frauenthematik« Umrissen werden kann, noch nicht
allzu lange in das Blickfeld der ethnologischen Untersu
chung gerückt und bei weitem noch nicht vollständig
durchleuchtet; zum anderen paßt die Vorstellung von
gleichgeschlechtlichen Ehepartnern nicht in das - auch
von Ethnologen vertretene - herkömmliche Bild einer
ehelichen Gemeinschaft. Davon zeugen die zahlreichen
Definitionen des Begriffes »Ehe«, die entweder den
Schwerpunkt auf die Beziehung zwischen Mann und Frau
legen oder aber die Legitimität der aus dieser Verbin
dung hervorgehenden Kinder in den Mittelpunkt stellen.
Beide Definitionsansätze lassen es fraglich erscheinen,
ob die Gynaegamie überhaupt als eine Eheform angese
hen werden kann. Dies umso mehr, als gerade in den
traditionellen Gesellschaften die Ehe eingegangen wird,
um den Wunsch nach Kindern - als Altersversorgung,
Statussymbol etc. - zu erfüllen. Diese Tatsache, die bei
einer Heirat zwischen Frauen ausgeschlossen zu sein
scheint, läßt denn auch das Vorurteil aufkommen, daß
homosexuelle Neigungen ein Grund für die Gynaegamie
sein könnten.
Tietmeyer möchte mit ihrer Arbeit falsche Vorstellungen
dieser Art ausräumen und zum besseren Verständnis der
»woman-marriage«, wie die Verbindung zwischen Frau
en in der englisch-sprachigen Literatur genannt wird,
oder »Gynaegamie«, wie Tietmeyer diese Institution
nennt, beitragen. Ihre Aufgabe wurde durch die sehr
schlechte Quellenlage erschwert. Außer wenigen neue
ren Aufsätzen, die sich mit dem Thema befassen, tau
chen Hinweise fast nur in Monographien und umfassen
deren Werken zu Heirat und Verwandtschaft auf.
An den Beginn ihrer auf einen Vergleich der Gynaega
mie bei verschiedenen Ethnien abzielenden Arbeit stellt
Tietmeyer einige grundsätzliche Überlegungen zu Heirat
und Ehe, wobei sie in einem eigenen Kapitel auf die
spezifisch afrikanischen Eigenheiten dieser Institution
eingeht. Als wesentlich gelten die Funktion des Braut
preises und der Nachkommen. Die Hervorhebung gera
de dieser beiden Aspekte zielt bewußt auf die späteren
Ausführungen über die Gynaegamie ab: eine Ehe zwi
schen Frauen (wie auch zwischen Mann und Frau) wird
mit dem Zweck eingegangen, für Nachkommen zu sor
gen. Durch die Zahlung des Brautpreises, der im Falle
der Gynaegamie von einer Frau entrichtet wird, werden
die Ehe und die daraus hervorgehenden Kinder legiti
miert; die Kinder gelten nicht als Nachkommen des
Genitors, sondern des-/derjenigen, der/die den Braut
preis bezahlt hat oder in dessen/deren Namen der Braut
preis entrichtet wurde.
In Schwarzafrika findet sich die Gynaegamie nur bei
patrilinearen Ethnien mit Schwerpunkten in Westafrika
(Nigeria und Benin), Ostafrika (Sudan, Kenia, Tansania)
und Südafrika (Republik Südafrika und Lesotho). Aus
diesen drei räumlich getrennten Gebieten, die eine unab
hängige Entstehung und Entwicklung dieser Institution
vermuten lassen, wählte Tietmeyer, orientiert an der
Quellenlage und der geographischen Verteilung, insge
samt fünf Ethnien (Lovedu, Ibo, Nuer, Nandi, Gikuyu)
aus; ferner griff sie Nairobi zu Beginn dieses Jahrhun
derts heraus, wo die Gynaegamie unter Prostituierten
verbreitet war.
Anhand der insgesamt sechs Beispiele erläutert die Ver
fasserin das Wesen dieser Institution in den betreffenden
Gesellschaften. Eingebettet sind die Ausführungen je
weils in einen vorangehenden prägnanten Überblick über
das soziale Umfeld, das die Frauenheirat beeinflußt und
zu ihrem Verständnis beiträgt, und in einen nachfolgen
den, so weit wie möglich erschöpfenden Vergleich mit
benachbarten Ethnien, bei denen es die Institution eben
falls gibt. Zum Abschluß jeden Kapitels werden die
Alternativen zur Gynaegamie aufgezeigt, die als eine
Möglichkeit zur Lösung des Nachwuchsproblems ver
standen wird.
Aufgrund der unzureichenden Literatur sind die Darstel
lungen der Gynaegamie bei den einzelnen Ethnien so
wohl quantitativ als auch qualitativ sehr unterschiedlich;
ein Mangel, der Tietmeyer sehr wohl bewußt ist. Trotz
der schlechten Voraussetzungen gelingt es Tietmeyer
aber dennoch, die Gynaegamie in ihren wesentlichen