TRIBUS 43, 1994
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Petroski, Henry:
Messer, Gabel, Reißverschluß. Die Evolu
tion der Gebrauchsgegenstände. Aus dem
Amerikanischen von Inge Rau. Basel/
Boston/Berlin: Birkhäuser, 1994. 342 Seiten
mit Fotos und Zeichnungen
Kulturgeschichte aus der Sicht eines amerikanischen
Ingenieurwissenschaftlers - das prägt den Inhalt dieses
Buches mit seinem spannenden Titel. In Wahrheit geht es
jedoch über die Zeit der Erfindung und des Siegeszuges
von Reißverschlüssen hinaus, denn behandelt werden
auch Gebrauchsgegenstände der Gegenwart wie McDo
nalds Verpackungen aus Polystyrol, Abfalltüten aus
Kunststoff, digitale Telefonapparate, selbst Flugzeugty
pen u. a. m.
Für den Ethnologen, der sich mit dem Alltag von Men
schen im allgemeinen oder mit Bevölkerungsgruppen im
besonderen bzw. mit Fragen von materieller Kulturaus
stattung beschäftigt, ist das weite Blickfeld des Verf. von
der Ur- und Frühgeschichte bis an die Schwelle des 3.
Jahrtausends wertvoll und wichtig, zumal in ethnologi
schen Fachkreisen die Frage nach wie vor diskutiert wird,
ob die Objektivationen einer vom Konsumdenken
bestimmten Massengesellschaft noch dem Untersu
chungsgegenstand von Ethnologie, Ethnographie, Volks
kunde, Anthropologie usw. zugehören. Das von Henry
Petroski vorgestellte Material scheint dem Rez. ein unbe
dingtes Indiz dafür zu sein, den Dingen des unmittelbaren
gegenwärtigen Alltags größere Aufmerksamkeit zu
schenken, denn es sind Menschen, die mit den Gerät
schaften, die ihnen zur Verfügung stehen, an deren Her
stellung sie in irgendeiner Weise häufig selbst beteiligt
sind, umgehen, von denen ihr Leben mit bestimmt wird
und von deren Bedürfnissen es nicht zuletzt mit abhängt,
ob etwas ihnen Angebotenes akzeptiert wird, sich durch
setzt oder nicht. Das aber ist wiederum Teil eines Prozes
ses, der letztlich mit der Menschwerdung und der Ent
wicklung menschlicher Kultur seinen Anfang nimmt und
den wir über die Jahrhunderte bzw. über die zahlreichen
gesellschaftlichen Perioden bis in unsere Tage verfolgen
können.
Solche oder ähnliche Zusammenhänge zwischen Mensch
und Gegenstand, Gerät, Maschine und dergleichen wer
den vom Verf. freilich kaum behandelt und damit fehlt ein
wesentliches Stück Beziehungsgeschichte, das zumindest
der Rez. erwartet hätte und das in einer ganzen Reihe sehr
instruktiver kulturhistorischer Publikationen nicht erst in
jüngster Zeit zum Ausdruck gebracht wurde (vgl. bei
spielsweise »Leben und arbeiten im Industriezeitalter«,
Stuttgart 1985; »Auch Dinge haben ihre Tränen«, Wien
1988; »Das Schicksal der Dinge. Beiträge zur Designge
schichte, Dresden 1989; 13 Dinge. Form, Funktion,
Bedeutung«, Stuttgart 1992 u.v. a. m.). Der Grund dafür
mag darauf zurückzuführen sein, daß P. mit wenigen Aus
nahmen nur amerikanische Literatur benutzt und er
Untersuchungen zu den Mensch-Ding-Beziehungen aus
Europa kaum reflektiert hat. Das bleibt jedoch lediglich
festzustellen, wie andererseits der Gerätespezialist auf
Dinge hingewiesen wird, die er bis dahin kaum wahrge
nommen haben dürfte und die auch in Europa eher in die
Bereiche von Wirtschafts- und Produktivkraftgeschichte
gehören. Wie auch immer: Die Untersuchungen von P.
sind einzuordnen in die immer wieder aufbrechende Pro
blematik um den Stellenwert von materieller Kulturaus
stattung im historisch-ethnologischen Kontext, wobei
gleichzeitig die Frage der Interdisziplinarität wieder ein
mal aufgeworfen wird. Denn es zeigt sich, daß auch der
ingenieurwissenschaftliche Aspekt seinen heuristischen
Stellenwert für die Interpretation von materieller Kultur
haben kann.
Der Untertitel des vorliegenden Buches lautet: »Die Evo
lution der Gebrauchsgegenstände« und die führt uns P. in
14 Fallbeispielen vor, die in ihrer Detailfülle an dieser
Stelle nicht zu resümieren sind. Nur einige Überschriften
seien erwähnt: »Wie die Gabel zu ihren Zinken kam«,
»Von der Stecknadel zur Büroklammer«, »Steckverschluß
vor Reißverschluß«, »Erst verschließen, dann öffnen«,
»Wenn das Gute doch besser als das Beste ist« usw.
Evolution der Formen, der Gegenstände, der Werkzeuge,
der Gebrauchsutensilien ist für P. in erster Linie die
»Erkenntnis des Versagens« vorheriger Dinge, deren
Gebrauchswert verbessert werden muß, und dies in der
Art eines Wettbewerbs, dessen eigentliche »Natur... ein
Kampf um Überlegenheit« ist; ein Konkurrenzkampf
zwischen Erfindern oder Designern, der sich dann, um
den Absatz irgendeiner Novität zu steigern, sehr oft im
Äußerlichen erschöpft, ohne die Grundfunktion etwa
eines dreiteiligen Eßbestecks wesentlich, wenn über
haupt, zu verändern. Vom Beispiel des x-teiligen Tafelsil
bers seit der Jahrhundertwende ausgehend, das für P. in
manchen Fragen geradezu ein Leitfossil« ist, kommt er
im Kapitel »Die Form folgt dem Fehlschlag« zur
Erkenntnis: »Es ist eher der Luxus und nicht so sehr die
Not, die erfinderisch macht.« Das mag auf vieles in der
gehobenen bürgerlichen Gesellschaft des 20. Jahrhun
derts zutreffen, vermag aber keine Antwort z. B. auf die
Multifunktionalität des Hammers mit den unterschied
lichsten, weil für die jeweiligen Arbeiten notwendigen
Veränderungen, zu geben. Die Vielfalt der Formen
stammt aus den Erfahrungen des Handwerkers und hat in
erster Linie mit den Funktionen des Geräts, des
Gebrauchsgegenstands zu tun. Darauf geht P. kaum ein,
wie er auch den Bereich der agrarischen Gerätschaften
und deren Entwicklung durch die Kooperation von Bauer
und Dorfhandwerker außer acht läßt und die Bedeutung
des Funktionalen mit Bemerkungen wie der folgenden
negiert: » .. .wenn wir die Dinge schon nicht dazu bringen
können, richtig zu funktionieren, ... können wir sie
zumindest vorzeigbar machen. Nichts, was wir entwerfen
oder hersteilen, funktioniert jeweils wirklich. Immer kön
nen wir sagen, was es tun sollte, aber gerade das tut es
nie ... Jedes Ding, das wir konstruieren oder herstellen,
ist etwas Behelfsmäßiges, etwas Improvisiertes, etwas
Unpassendes und Provisorisches... Alle Produktentwick
lungen sind bis zu einem gewissen Grade Fehlschläge«
(S.41 f.)