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Volltext: Tribus, 44.1995,N.F.

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Buchbesprechungen Allgemein 
Die in den ersten Monaten nach der Entdeckung des Neo- 
lithikers in und über die Medien erhobenen Vorwürfe 
dürften mit diesem Buch gegenstandslos geworden sein. 
Die meisten der vor allem von Wiener Kollegen geäußer 
ten Einwände wird Spindler jetzt wohl ebenfalls entkräf 
tet haben. Nicht nur der historisch Interessierte muß 
eigentlich sehr dankbar sein, daß bei allen nicht vor 
hersehbaren kleineren Unfällen in den Anfängen der 
Fundbergung mehrere glückliche Umstände rund um Ötzi 
zusammentrafen, zum einen bei seiner Einlagerung im 
Eis des Hauslabjochs vor 5000 Jahren, zum anderen bei 
der Hebung seiner Leiche, wie zum Beispiel die ORF- 
Filmaufnahmen. Mehr als amüsant ist für den Nicht 
österreicher, daß zwischen den Zeilen österreichische 
Mentalitäten, Staatsbürokratie und überholte gesell 
schaftliche Strukturen sowie Animositäten zwischen 
Landesteilen sichtbar werden, die auf den Außenstehen 
den irgendwie beruhigend wirken ... dort wie hie ... c’est 
la vie. 
Glänzend versteht es Spindler, in das eigentliche Thema 
der Publikation viel Lehrreiches zu integrieren, so über 
Restaurierungen, über die jüngere Geschichte Mitteleuro 
pas, wie das Mittelalter, und über die holozäne Klima 
geschichte, die bereits vor etlichen Jahrtausenden Wär 
meperioden aufwies, wie wir sie heute erleben. Wer von 
den selbsternannten Klimatologen unserer Tag liest schon 
ein Buch über Klimageschichte! Vielleicht greift der eine 
oder andere jedoch zu Spindlers Ötzi-Buch und macht 
sich dann eventuell Gedanken über pressegerechte Sen 
sationsmache, womit jedoch nicht die Bedeutung jegli 
chen Naturschutzes geleugnet werden soll. Fazit: »Der 
Mann im Eis« ist auch ein archäologisches Lehrbuch, 
nicht über Stratigraphien, Typologien und nicht nur für 
Studenten, sondern über das gesellschaftliche Umfeld 
von Grabungen, in dem sich Archäologen notgedrungen 
ebenfalls bewegen müssen. Ein sicher nicht zu unter 
schätzender Lehrbereich! 
Bei so viel Lob drängen sich einige kleinere kritische 
Anmerkungen geradezu auf. Beispielsweise die: Am 2. 
Oktober 1991 wurde endgültig festgestellt, daß die 
Mumie auf italienischem Hoheitsgebiet lag (81). Es wird 
dem Leser nicht klar, warum Innsbruck dennoch mit sei 
ner begonnenen Arbeit am Fund und am Fundplatz fort- 
tahren konnte. Sicherlich haben doch auch italienische 
Archäologen an der Bewältigung dieser Aufgabe Inter 
esse gehabt. - Bei der von Spindler gegebenen Erklärung 
zu den Schalensteinen (129) bleiben etliche Fragen offen, 
zum Beispiel die nach der jeweils großen Zahl an »Schäl 
chen« auf Monolithen. Kann sie wirklich mit der Lange 
weile neo- und chalkolithischer Hirten erklärt werden? - 
Der Hinweis auf die Verwendung zweier verschiedener 
Holzarten bei einem der zwei »schußbereiten« Pfeile, der 
kein Kompositpfeil gewesen sein soll, ist nicht schlüssig. 
Gerade der Vorschaft bestand in der Regel aus einer ande 
ren Holzart, wenn nicht sogar aus anderem Material. - 
Der Exkurs über Mumien erscheint überflüssig, nachdem 
den hiermit zusammenhängenden Fragen bereits in Teil 
IV (Mumien) drei Abschnitte gewidmet wurden. Das im 
Exkurs Niedergelegte hätte in den vierten Teil integriert 
werden können. - Gemessen an der Bedeutung der Publi 
kation insgesamt, fallen diese beispielhaft ausgewählten 
Kritikpunkte nicht ins Gewicht. 
Was hleibt, ist dies: Spindler und seinen Mitarbeitern ist 
eine detaillierte Dokumentation der Fundumstände, der 
Befunde und der Funde, die »der Mann im Eis« mit sei 
ner Hebung und in den Folgejahren freigab, bestens 
gelungen. 
Axel Schulze-Thulin 
Wirsing, Rolf; 
Gesundheits- und Krankheitsverhalten und 
seine kulturelle Einbettung in einer Klein 
stadt im Südosten der Türkei. Kölner Ethno 
logische Mitteilungen, Bd. II. Köln: Böhlau, 
1992. 312 Seiten 
Dieser Habilitationsschrift, eingereicht 1990 bei der Phi 
losophischen Fakultät der Universität Köln, ging eine 
einjährige Feldforschung des Autors 1984/85 in der Tür 
kei vorher. 
Das Buch macht einen ausgezeichneten Eindruck, wenn 
man es in die Hand nimmt und durchblättert. Es ist über 
sichtlich gegliedert, in gut verständlicher Sprache 
geschrieben, und die Thematik wird gründlich vorbereitet 
und kommentiert. Zunächst werden Theorie und Metho 
den dargestellt (31 Seiten), dann wird ein Überblick gege 
ben über die kulturell geprägte Umwelt einschließlich 
Geographie, Demographie, Soziologie, Politik, Wirt 
schaft und das kulturelle Wissen der Bevölkerung zum 
Thema (56 Seiten). Das Gesundheitsverhalten wird auf 
65 Seiten, das Krankheitsverhalten auf 56 Seiten behan 
delt. Eine Zusammenfassung (19 Seiten), 9 Appendizes 
(65 Seiten) und eine Bibliographie (19 Seiten) beschlie 
ßen das Werk. 
Bei näherer Betrachtung fällt dem Leser auf. daß von den 
312 Seiten nicht mehr als 118 dem Thema »Gesundheits 
und Krankheitsverhalten« Vorbehalten sind und daß 
davon ganze 53 Seiten dem »Krankheitsverhalten« ein 
geräumt werden, das nach Wirsings Definition nicht nur 
das Verhalten der Kranken, sondern auch die Leistungen 
medizinischer Einrichtungen und Personen, traditioneller 
Heiler und Krankenversicherungen einschließen soll. 
Bei der Lektüre des Buches stolpert der Leser gleich ein 
gangs über diese Definition des Krankheitsverhaltens 
(Seite 14 f.). Sie enthält grammatikalische Fehler, ist in 
sich widersprüchlich, steht in Widerspruch zu Ausführun 
gen des Autors in anderen Veröffentlichungen, läßt vorlie 
gende medizinsoziologische und epidemiologische Arbei 
ten zum Thema unberücksichtigt und stimmt insgesamt 
mit den Gegebenheiten, die begrifflich definiert werden 
sollen, nicht überein. Mit der Problematik vertraute Medi 
zinsoziologen und Epidemiologen dürften mit dieser Defi 
nition nichts anfangen können. Die für die Habilitation 
und die »Kölner Ethnologischen Mitteilungen« verant 
wortlichen Ethnologen nahmen daran keinen Anstoß. 
Wirsings Definition des Krankheitsverhaltens »trennt die 
bei einer Person beobachteten Reaktionen auf sein(!) 
Kranksein von der seinem!!) Verhalten zugrundeliegen 
den Perzeption und Bewertung ab. Sie definiert Krank 
heitsverhalten als das Verhalten einer sich gesundheitlich 
beeinträchtigt fühlenden Person, die sich um die Wieder 
herstellung ihrer Gesundheit bemüht. Krankheitsverhal 
ten ist dabei ein Prozeß, der die Mobilisierung besonde 
rer Verhaltensweisen zur Folge hat, ungeachtet, ob diese 
Verhaltensweisen ihr beabsichtigtes Ziel der Wiederher 
stellung der Gesundheit erreichen, den Krankheitszu
	        
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