Analecta et Additamenta
Zur Wissenschaftstheorie der Ethnomedizin. - Obwohl es nicht neu ist, interdiszi
plinär zu arbeiten, wird seit einigen Jahren von interdisziplinärer Forschung als von
etwas Neuem gesprochen. „Wenn Alexander von Humboldt reist“, soll ein französi
scher Chemiker gesagt haben, „setzt er eine ganze Akademie in Bewegung“. Humboldts
Konzept von interdisziplinärer Forschung unterscheidet sich von dem, was sich heute als
modern und zweckmäßig anbietet. Charakteristisch für die herrschende Auffassung von
interdisziplinärer Forschung ist einmal, daß sie als Team-Arbeit gesehen wird, ja, daß
man annimmt, Forschungsprojekte, die den Einsatz von Forschergruppen erfordern,
führten überhaupt erst zu ihr hin. Zum anderen — und das ist in der Tat neuartig - sieht
man die interdisziplinäre Zusammenarbeit heute vornehmlich als organisatorisch-tech
nisches Problem.
Die fortschreitende Spezialisierung - so Helmut Schelsky, Initiator des Zentrums
für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld - mache eine Re-Integration der
Spezialwissenschaften durch interdisziplinäre Zusammenarbeit notwendig. Daß diese
Notwendigkeit mit der Intention, die Effizienz der wissenschaftlichen Arbeit zu steigern,
begründet werden kann, ist nicht zu bezweifeln. Offen bleibt die Frage, wohin eine solche
fortlaufend gesteigerte Wirksamkeit und Perfektion des wissenschaftlichen Tuns führt.
Der Spezialist, der mit anderen Spezialisten im Team zusammenarbeitet, wird sich darüber
kaum Gedanken machen.
Das Konzept von interdisziplinärer Forschung, das heute weitgehend und offiziell
gebilligt wird, ist einseitig an der Spezialisierung und Arbeitsteilung des Wissenschafts
betriebes orientiert. Die Spezialwissenschaften sollen durch betriebliche, organisatorische
und technische Maßnahmen und Einrichtungen zusammengeführt werden. Insbesondere
an den Einsatz von Computern und das Vordringen der Kybernetik werden Hoffnungen
geknüpft, die auf Verbindung der Wissenschaften untereinander abzielen. Diese Hoff
nungen muten utopisch an, denn ein Computer dient dazu, technisch aufbereitetes
Wissen, Informationen zu speichern und auf Abruf von sich zu geben, die Einheit der
Wissenschaften dagegen, wie Wilhelm von Humboldt sie vertrat und sein Bruder
Alexander sie praktizierte, geht von der Suche nach Wahrheit aus. Sie kann sich zwar
im Wissenschaftsbetrieb entfalten, nicht aber durch den Wissenschaftsbetrieb hervor
gebracht werden. Der Wissenschaftsbetrieb, den wir von der Wissenschaft, sofern s ie
sich als Wahrheitsfindung versteht, zu unterscheiden haben, beginnt, mit der Zunahm 6
der technischen Hilfsmittel und dem Ausbau der Wissenschaftsbürokratie großbetrieb-
liehe Züge anzunehmen. Nicht nur werden die Universitäten nach Gesichtspunkten orga
nisatorischer Zweckmäßigkeit neu geordnet, aufwendige Großwissenschaften, Sonder-
forschungsbereiche und Schwerpunktforschungen eingerichtet, sondern überhaupt ^
eine Umwandlung von Wissenschaft in Technik zu beobachten. „Sonderforschung 3
bereiche“, heißt es in einer Erläuterung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (1972:14)»
„sind langfristig institutionalisierte Gruppierungen von Forschern verschiedener
Disziplinen aus wissenschaftlichen Hochschulen und anderen Institutionen (z. B. MAX'