68 : Bücherschau.
Büchersehau.
J. B. Meyer: Kant's Psychologie. Berlin 1870.
Nach einem Blicke auf die Widersprüche in den Arbeiten Herbert's, Beneke's. Ulrici's,
Fischers, Liebmann's, Schopenhauer’s u. s w. (von denen jeder durch seine Schüler für den
alleinwahren Propheten der kantischen Offenbarung erklirt wurde), unternimmt es der Verfas-
ser, die psychologischen Ansichten Kant's darzulegen und gegen falsche Vorwürfe zu vertheidi-
gen, indem er sich am nächsten an Fries Auffassung anschliesst. Die naturwissenschaftlichen
Studien des Verfassers haben, wie seine Deductionen, auch seine Sprache vereinfacht, während
sich sonst beim Leser derartiger Bücher leicht die Bemerkung aufdrángt, dass unsere westliche
Philosophie sich in einen eigenthümlichen Jargon hineingeredet hat, bei dem es dem Laien oft
ebenso zu Muthe wird, als wenn er die Discussionen der Partheien im heiligen Concil über das
Infallibilitàts-Dogma liest. Es scheint ihm mitunter, dass alle diese weitschweifigen Erórterun-
gen*) über die Beschlüsse früherer Synoden, über Bullen, pápstliche Decrete, über die gemilderte
oder unbedingte Unfehlbarkeit gespart werden kónnten, da dem gesunden Menschenverstand die
Unfehlbarkeit überhaupt als unfehlbarer Unsinn erscheint. Da der Papst indessen, wenn auch
in seiner weltlichen Macht beschnitten, auf die geistlichen Blitze noch nicht verzichtet hat, ist
die Rebellion des beschränkten Unterthanenverstand bisher stets in gebührende Schranken ge-
halten worden. Sollte jedoch, wie es nahe bevorzustehen scheint, in der Gelehrtenwelt ähn-
liche Opposition gegen manche philosophische Dogmen erwachen, so dürfte die Antwort etwas
schwieriger ausfallen. In speculativen Werken finden sich háufig ganze Capitel, wenn nicht das
Buch vom Anfang bis Ende, mit einem Hin- und Herreden gefüllt, bei dem sich der Profane mit
steigendem Erstaunen auf jeder Seite nach dem Zweck allen solchen Staubumrührens fragt, da
die ganze Sache wahrscheinlich gleich von Anfang an mit einer kurzen Antwort erledigt ge-
wesen sein würde, wenn vielleicht nicht überhaupt schon die Fragestellung selbst eine unrich-
tige war. Die Volks-Logik meint das Reden über des Kaisers Bart mit ihrem Sprüchwort be-
seitigt zu haben, aber die Ars magna versteht es besser, um sich in so plumper Weise
abfertigen zu lassen. Dem Uneingeweihten allerdings bleibt es ein unverständlicher Ge-
sehmack, der im Frühling neuen Verstándnisses aufspriessenden Natur die Augen zu verschlies-
sen und lieber im Halbdunkel labyrinthischer Irrgänge umherzuschleichen, um sich mit den
Begegnenden herumzuzausen, ohne dass man recht weiss, mit wem es eigentlich zu thun giebt
und woher all dieser Lärm. In seinen Prolegomena, um Hume’s Einwürfe („der zuerst den
dogmatischen Schlummer: unterbrach“) zu widerlegen, ergeht sich Kant in allerlei Winkelzügen,
ehe er sich daran macht, die Frage zu beantworten, ob Metaphysik möglich sei, In seinem
Fundamentalwerk darüber (dessen hohe Bedeutung für die Zeit, in der es entstand, natürlich
Niemand verkennen wird), sind zwei Probirsteine für seine Lehre hingestellt: die „reine Mathe-
matik“ und die „reine Naturwissenschaft“ und es muss erlaubt sein, die Aechtheit derselben
mit den durch neue Entdeckungen geschärften Instrumenten unserer heutigen Beobachtung zu
prüfen. In der reinen Naturwissenschaft bilden die Haupteriterien einige (namentlich angeführte
zwei) Grundsätze der allgemeinen Physik, dass „die Substanz bleibt und beharrt“, „dass alles .
was geschieht, jederzeit durch eine Ursache nach beständigen Gesetzen vorher bestimmt sei.“
„Dieses sind wirklich allgemeine Naturgesetze, die völlig a priori bestehen.“ Was Heraklit ge-
gen den ersten Satz zu sagen haben sollte, überlasse ich seinen Manen, denen es jedenfalls
*) innerhalb der Coterie, und ähnlich bemerkt Kant: „Man kann in der Metaphysik auf
mancherlei Weise herumpfuschen, ohne eben zu besorgen, dass man auf Unwahrheiten werde
betreten werden.“ Das weiss Gott und der heilige Fidanza, der es deshalb den Naturforschern
verzeihen möge, wenn sie nicht zu seraphischen Höhen aufzusteigen wagen.