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Hermann Amborn
Anthropos 93.1998
kognitiven Sinne - faktische Gegebenheiten (z. B.
vom Forscher wahrgenommene oder von Akteuren
ausgedrückte Inhalte kollektiver Identität) und jene
eher emotionalen Elemente, die sich als Gefühl
der Gruppenzugehörigkeit ausdrücken. Weiterhin
ermöglicht es, die scheinbar paradoxe Situation
aufzulösen, innerhalb einer Gesellschaft gleich
zeitig und gleichberechtigt die gegensätzlichen
Extrempositionen einer offenen Gesellschaft und
das Konzept einer umreißbaren Gruppe vorzu-
ßnden.
3. Fallbeispiel: Kultur der Burji im Umbruch
Wir können uns nun wieder den Burji zu wen
den. Das traditionelle Siedlungsgebiet der d’äas-
Sprecher umfaßt eine Nord- und eine Südgruppe,
die in symbiotischer Beziehung stehen, die zeitwei
se auch von gewalttätigen Auseinandersetzun
gen geprägt war. 13 * * Äußerlich auffallendes Cha
rakteristikum der Nordgruppe ist eine auf der
ensete-¥M\im (Musa ensete edulis) basierende
Landwirtschaft, wie wir sie häufig in den Hoch
ländern Südäthiopiens antreffen, während die
200 bis 300 Meter tiefer wohnende Südgruppe
vornehmlich Getreide anbaut. Mit dem Anbau
verschiedenartiger Grundnahrungsmittel geht eine
unterschiedliche Siedlungsstruktur einher. Im en-
sefe-Gebiet herrschen Streusiedlungen vor, wäh
rend im Getreideanbaugebiet geschlossene Sied
lungen üblich sind.
Vor der Einverleibung in das nordäthiopische
Kaiserreich besaßen die ¿Tdas-Sprecher eine ake-
phale Gesellschaftsstruktur, in der patrilineare
Klane, Generationsgruppen und Regionalverbände
die wichtigsten Elemente bildeten. Sowohl die
Streusiedlungen wie die geschlossenen Dorf- und
Stadtanlagen waren in Bezirke unterteilt, die kor
porative Einheiten bildeten. Sie sorgten zusammen
mit den gdda-Gruppen u. a. für den Erhalt der
Infrastruktur, wie Wegenetze, Brunnenbauten und
Verteidigungsanlagen. Ihr Generationsgruppen
system weist Übereinstimmungen mit den gäda-
Systemen der Borana und Konso auf, war je
doch wesentlich komplizierter. Im Generations
gruppensystem durchlief die gesamte männliche
Bevölkerung in zyklischen Abständen mehrere
Grade, die mit unterschiedlichen gesellschaftli
chen, politischen und religiösen Aufgaben ver
bunden waren. Klan und lineage-System regelten
13 Für diesen Abschnitt vgl. Sasse und Straube 1977; Amborn
1988, 1990: Kap I, 1995. Einbezogen wurden Straubes
Manuskript von 1955 und seine Feldjournale von 1973/74.
vornehmlich die Heiratsverbindungen. Aus den
Klanen gingen auch die wichtigsten religiösen
Würdenträger - die ganni - hervor. Sie schlich
teten Streitigkeiten und waren für das Gedeihen
der Haustiere und Feldfrüchte, die Abwehr von
Schaden und somit für das Wohlergehen der ge
samten Bevölkerung verantwortlich.
Der Stand jener hoch entwickelten Landwirt
schaft, der für die gesamte Burji-Konso-Gruppe
charakteristisch war, ist heute noch bei den Konso
zu beobachten. Wir finden die typischen Elemente
agrarischer Intensivierung, wie Terrassenkultur mit
künstlicher Feldbewässerung und intensiver Dün
gung, die in Verbindung mit kooperativer Arbeit
einen Dauerfeldbau ermöglichen, sowie die zona
le Gliederung des Feldlandes, Mischfruchtanbau,
eine breite Palette an Nutzpflanzen, von denen
besonders ensete, Gerste, Weizen, Sorghum, ver
schiedene Gemüsesorten und Kaffee zu erwäh
nen sind. Wirtschaftsziel war nicht ein besonders
hoher Ernteertrag, sondern langfristige ökonomi
sche Sicherheit, die selbst Planung über mehrere
Generationen einschloß. Vollzeithandwerker und
Berufshändler versorgten die Gesellschaft mit den
notwendigen nichtagrarischen Produkten.
In dieser Geschlossenheit sind die genannten
Kulturelemente heute nicht mehr anzutreffen; viele
sind noch im Gedächtnis und prägen die Weitsicht,
einige sind vergessen, andere leben in modifizier
ter Form weiter oder erleben eine Revitalisierung-
Trotz des Einschnittes und der Zerstörungen durch
die Eroberung vollzog sich der Bruch mit der alten
Lebensweise über einen langen Zeitraum und nicht
in allen Bereichen gleich intensiv. Besonders die
relativ lange frontier-Situation im Süden (d. h. die
Zeit bis zur Etablierung einer staatlichen Hegemo-
nialgewalt) von etwa 30 Jahren wirkte retardierend
auf den Wandlungsprozeß. Während der italieni
schen Besatzung - Burji kämpften gegen die äthio
pischen Kolonisatoren auf Seiten der Italiener -
kam es sogar zur Revitalisierung des Generations
gruppensystems. Als einer der Gründe, warum
selbst heute im modernen städtischen Umfeld die
Verbindung zur Lebensweise der Vorfahren nicht
völlig abgebrochen ist, kann angeführt werden,
daß sich der Wandel in der Nord- und Südgrup
pe unterschiedlich rasch vollzog, zwischen beiden
aber bis heute ein ständiger Austausch herrscht.
Die Hochlandbevölkerung ist verglichen mit der
Südgruppe weniger mobil und auch Veränderun
gen gegenüber skeptischer. Im weiteren beziehe
ich mich (sofern nicht anders vermerkt) auf die
Südgruppe.
Seit der Eroberung durch die Truppen des äthio
pischen Kaisers Menilek am Ende des letzten Jh.s