Gutachten VI.
Frl. Erna M., geboren am 11. Mai 1891 zu H., suchte uns vor etwa
fünf Wochen auf, da das Gefühl einer ausgesprochen männlichen Persön
lichkeit hinsichtlich ihrer Neigungen, Empfindungen und Anschauungen
in ihr Zweifel an ihrer Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht erweckt
hatte; besonderen Ausdruck fand dieser von ihr als Widerspruch zwischen
Sein und Schein empfundene Zustand in dem fast unwiderstehlichen
Drange, ganz als Mann leben zu können. Frl. M. ersuchte uns auf Rat.
ihres Anwalts im Einverständnis mit ihrer. Mutter, unter Bezug auf unsere
jahrelange spezialistische Beschäftigung mit den einschlägigen Fragen ein
sachverständiges Gutachten über sie abzugeben, durch das — wenn mög
lich —- ihre eigenartige Lage geklärt werden könnte. Wir haben seitdem
Frl. M. fortlaufend beobachtet, sie wiederholt eingehend untersucht und
exploriert, bei ihren Angehörigen Erkundigungen über ihr Vorleben, ihr
Wesen und ihre Lebensgewohnheiten eingezogen und geben, nachdem wir
auf Grund der Ermittlungen und unserer eigenen Wahrnehmungen zu
einem einwandfreien Resultat und abschließenden Urteil gelangt sind,
unser Gutachten im folgenden ab.
Vorgeschichte.
Vater und Mutter des Frl. M. waren rechter Cousin und Cousine.
Bei ihrer Geburt war der Vater, ein hoher Staatsbeamter,
55 Jahre alt, 20 Jahre älter als die Mutter. Sie ist das jüngste von fünf
Geschwistern, 8 Jahre nach dem nächstjüngsten Bruder geboren; die vier
älteren Geschwister folgten sich in Zwischenräumen von je zwei Jahren.
Ein Vetter der Eltern erschoß sich während der Pubertätsjahre aus ge
kränktem Ehrgeiz; die Schwester der Mutter und verschiedene Verwandte
2. und 3. Grades, die das 30. Lebensjahr überschritten haben, sind unver
heiratet. Im übrigen liegt eine erbliche Belastung, insbesondere in psychi
scher oder nervöser Hinsicht, nicht vor.
Die körperliche und geistige Entwicklung des Frl. M. verlief ohne
Störungen, doch machten sich bei ihr von frühester Jugend an charakte
ristische Eigenarten des männlichen Geschlechts bemerkbar, die uns von
der Mutter in den folgenden anschaulichen Mitteilungen geschildert
werden :
„Meine Tochter Erna zeigte schon im Alter von drei Jahren knaben
hafte Neigungen, die sich von Jahr zu Jahr steigerten. Sie spielte niemals