Zur Einleitung.
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wie überhaupt auf dem gesamten Boden der religiösen Volksüberlieferung
und der Mythologie kann nur die grösste Besonnenheit und die feinste
Scheidung der Elemente zu haltbaren Ergebnissen führen.
4. Die Sprache.
Die Grammatik im Ganzen überlassen wir der Sprachwissenschaft.
Wohl aber werden Beobachtungen über Laut-, Wort- und Satzbildungen,
die auf gewissen psychischen Yorgängen beruhen, uns willkommen sein.
Auch dialektliche Studien, die auf die Geschichte der Volksstämme
und der Landschaften und das Leben des Volkes sich stützen, werden wir
zu fördern suchen.
Besonders wird die Wortkunde unter gewissen Gesichtspunkten für
uns Bedeutung haben.
Der Wortschatz eines Yolkes oder eines Stammes in den verschiedenen
Perioden seiner Geschichte, der Wortvorrat der verschiedenen Bildungs¬
schichten ist ein Messer ihres geistigen Besitzes. Derselbe lässt sich für
die älteren Zeiten nur aus den schriftlichen Denkmälern feststellen; in
der Gegenwart dagegen aus der lebendigen Rede. Diese und jene Volks-
stämme, diese und jene Schichten der Bevölkerung haben eine abgegrenzte
Menge an Worten, Ausdrücken, Redensarten. Je geringer der Bildungs¬
stand einer Person, mit je weniger Worten kommt sie beim Sprechen aus.
Es giebt ganze Reihen von Wörtern und Formen der hochdeutschen ge¬
wöhnlichen Verkehrs- und Schriftsprache, welche bestimmte deutsche
Mundarten ganz vermeiden oder sehr selten anwenden, negative Idiotismen
wie sie Joseph Haltrich genannt hat, der dieselben für die sieben-
bürgisch-sächsische Volkssprache bearbeitet hat (Hermannstadt, 1866).
Den Kennern unserer mittelhochdeutschen Poesie sind die Ver¬
änderungen im Wortgebrauch bekannt, welche gegen Ende des zwölften
Jahrhunderts der sogenannte höfische Geschmack bewirkt hat. Der Wechsel
der Mode, der mit den Strömungen der Kultur zusammenhängt, hat auch
das Leben der Wrorte bestimmt, hat alte getötet, neue gezeugt, hat alten
neue Bedeutungen verliehen. Oft genügte der äussere Anklang an ein
verfehmtes Wort, um ein ganz unschuldiges zu beseitigen. Dazu kam die
religiöse oder auch bloss abergläubische Scheu bestimmte Wesen und
Dinge, denen man grosse Macht zuschrieb, mit ihrem richtigen Namen zu
nennen: das Namen-Tabu, das bei den sogenannten Wilden noch greifbar
lebt, aber auch bei den Kulturvölkern besteht. Christ offer Nyrop hat
in seinem Buche Navnets magt, en folkepsykologisk studie (Köbenhavn,
1887) davon lehrreich gehandelt.
Wer dem Leben der Volksseele im Sprachlichen nachspürt, wird nicht
bloss den Umfang des Wortschatzes, sondern auch die Geschichte des
einzelnen Wortes insofern studieren, als er es nicht bloss als einen, gesetz¬
lichen Veränderungen unterworfenen, Lautkörper betrachtet, sondern als