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Schwartz :
wie es heisst, d. h. ganz in der Kleidung erhält, und ob zur rechten Zeit
der Kochtopf voll ist, sondern auch in den höheren Schichten vibriert
dasselbe Moment, nur in anderen Formen, noch immer hindurch! Wenn
hier der Mann der Familie durch sein Thun im grossen Ganzen den
Stempel aufdrückt, so beruht die Kontinuität und gleichsam Dauerhaftig¬
keit derselben doch mehr auf den täglichen Lebensgewohnheiten, welche
die Frau ihr und dem Nachwuchs gegeben.
Den natürlichen Faden der Entwicklung aber stets festzuhalten,
ja ihn überhaupt der Wissenschaft zu vermitteln, ist gerade eine Haupt¬
aufgabe der Volkskunde. Nicht bloss Tacitus ging fehl, als er den alten
Deutschen unterschob, sie hätten keine Tempel, weil sie glaubten, das
Göttliche nicht in Wände einschränken zu dürfen, sondern es ist derartiges
eine allgemeine Stubengelehrtenkrankheit, die überall da hindurchbricht,
wo die Wissenschaft und Litteratur nicht in Fühlung mit dem Leben
bleibt. Will man doch z. B. selbst noch aus Homer und dem griechischen
Altertum, wo der natürliche Hintergrund doch noch überall sichtbarlich
hindurchblickt, ihn möglichst ausmerzen, wenn er einmal schärfer unserem
modernen Gefühl oder Geschmack widerspricht1).
Deshalb erschien es mir nicht ungeeignet, zur Yorbereitung einer
Charakteristik des Yolkstümlichen in diesem Sinne, dasselbe einmal in
seiner Eigentümlichkeit auf verschiedenen Gebieten, wie es überall noch,
namentlich auf dem flachen Lande und in den kleinen Städten, gelegent¬
lich in einzelnen Zügen charakteristisch hervortritt, gleichsam an prak¬
tischen Beispielen zu verfolgen. An die Spitze möchte ich eine Samm¬
lung charakteristischer Volksmiscellen stellen, wie sie mir bei dem
Verkehr mit dem Yolke einst auf langjährigen Wanderungen in
der Mark und dann überhaupt in Norddeutschland behufs Sammeln
von Sagen und dergleichen2), gelegentlich entgegengetreten sind, und in
denen das allgemein Menschliche zu einem für den Volkstypus bezeich¬
nenden Ausdruck gelangt und zu denen auf den Höhen des Lebens in der
1) Wenn z. B. Antigone beim Sophokles in ihrer Erregtheit vom „natürlichen" Stand¬
punkt aus auseinandersetzt, dass der Bruder ihr höher stände als ein Gatte oder ein
eigenes Kind, denn beide könnte sie wieder bekommen, aber nachdem Vater und Mutter
tot, einen Bruder nicht. Oder Jokaste dem Oedipus seine Sorgen ausreden will mit
der Bemerkung, „dass viele Menschen auch in Träumen schon sich vermählt sahen ihren
Müttern". Man muss solche Stellen nicht von unserem Gefühl, sondern von der Anschauung
des betreffenden Volkes aus auffassen, ebensowenig wie man in Homers Ilias die Verse
ausmerzen darf, in denen der Dichter den Odysseus dem Thersites, um den widrigen
Schwätzer zur Ruhe zu bringen, eins mit dem Scepter überziehen lässt, indem man es für
„feiner" erachtet, wenn er ihm nur Schläge androht.
2) Vergi. A.Kuhn und W. Schwartz, Norddeutsche Sagen, Märchen und Gebräuche
aus Mecklenburg, Pommern, der Mark, Sachsen, Thüringen, Braunschweig, Hannover,
Oldenburg, Westfalen. Aus dem Munde des Volks gesammelt. Berlin 1849. Desgl. die
Märkischen Sagen vom Jahre 1843, bezw. die Volksausgabe, Berlin bei Hertz, vom
Jahre 1886.