Mythologie und Religion.
Von Ludwig Tobler.
In der Einleitung, die der Herausgeber dem ersten Hefte dieser Zeit¬
schrift vorangestellt hat, ist unter den Gebieten, welche die Volkskunde
zu bearbeiten habe, an dritter Stelle die Religion genannt. Aber dieser
Name wird dann sofort mit „Mythologie" als „der natürlichen Religion
der Völker" vertauscht; im Schlusssatz ist trotzdem von „christlicher
Mythologie" die Rede und zuletzt werden „die religiöse Volksüberlieferung"
und die Mythologie so neben einander gestellt, dass sie doch wieder als
verschieden erscheinen müssen.
Es war nun gewiss weder nötig noch möglich, in einem solchen Pro¬
gramm scharfe Begriffsbestimmungen aufzustellen, und die Absicht des
Verfassers wird schwerlich missverstanden werden; aber seine Ausdrucks¬
weise deutet darauf, dass im Sprachgebrauch die Namen Mythologie und
Religion vielfach in einer Art vertauscht werden, die den Zwecken der
Wissenschaft nicht förderlich sein und zu wirklichen Missdeutungen führen
kann.
Indem ich versuche diesen Schwankungen entgegen zu treten, erinnere
ich daran, dass die „Zeitschrift für Völkerpsychologie", an deren Stelle
nun die vorliegende getreten ist, in ihrem III. Bande einen Aufsatz von
Delbrück „Über das Verhältnis zwischen Religion und Mythologie" ent¬
hält, der eben auch darauf ausgeht, den Unterschied der beiden Be¬
griffe festzustellen; von demselben ebendaselbst eine längere Abhandlung
5, Üb er die Entstehung der Mythologie bei den Indogermanen" und eine
kürzere von mir „Das AVort in der Geschichte der Religion , wo derselbe
Gegenstand von einem andern Gesichtspunkt aus berührt wird. Im zweiten
Jahrgang der „Theologischen Zeitschrift aus der Schweiz" (S. 233—264)
habe ich liber „Das germanische Heidentum und das Christentum" ge¬
schrieben. Als eine Fortsetzung und Abschliessung früher ausgesprochener
Gedanken möchte ich die folgenden angesehen wissen.
Zunächst muss ich die bereits bemerkte Thatsache der Schwankungen
des wissenschaftlichen Sprachgebrauches betreffend die beiden Namen mit
einigen Beispielen beleuchten, die nicht bloss auf dem Gebiete der deutschen
Philologie liegen. Aber das nächstliegende ist allerdings, dass J. Grimm
Zeitschrift d. Vereins f. Volkskunde. 1891. 21