Kurt Hassert: Der Fuciner See einst und jetzt.
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Der Fuciner See einst und jetzt.
Von Kurt Hassert.
II.
3. Da der Fucino durch seine launenhafte Willkür
und seine Jahre lang anhaltenden Überschwemmungen
die Ufergegenden unaufhörlich bedrohte, die Felder in
unergründliches Sumpfland verwandelte und die Be
nutzung des zeitweilig trocken liegenden Bodens in Frage
stellte, da er ferner ganze Ortschaften verschlang und
bösartige Fieber zuiiickliefs, so galt er von jeher als der
schlimmste Feind der Umwohner; und schon seit alters
wurden zahlreiche Versuche unternommen, durch teil
weise oder vollständige Trockenlegung der Wasserfläche
das Übel einzuschränken oder ganz zu beseitigen.
Zur Römerzeit war die Umgebung des Sees von den
Marsern, den Helden des Bundesgenossenkrieges, be
wohnt; und die wirtschaftlichen Schädigungen der Über
schwemmungen wogen um so schwerer, als die Becken-
sohle in dem rauhen, unfruchtbaren Berglande das
einzige ertragreiche Ackerbaugebiet von gröfserer Aus
dehnung darstellte. Die Eingeborenen glaubten, dafs
im See der Gott Fucinus hause und bemühten sich,
ihn durch Gebete, Opfer und Errichtung von Tempeln
zu besänftigen. Als aber alles Bitten nichts half, wandten
sie sich in ihrer höchsten Not an Julius Cäsar, der
bereitwilligst Hülfe zusagte. Er hielt es für wichtig,
das von Rom aus leicht und schnell erreichbare Binnen
meer in eine Kornkammer zu verwandeln, weil es immer
schwieriger ward, die rasch anwachsende Bevölkerung
der Reichshauptstadt ausgiebig mit Nahrungsmitteln zu
versehen. Er liefs einen Plan entwerfen, nach dem der
schadenhringende See zum Liris abgeleitet werden sollte;
doch ist es unentschieden, ob man ihn ganz entwässern
oder blofs auf einer gewissen Höhe erhalten wollte.
Leider wurde der weitblickende Staatsmann ermordet,
ehe er diese und eine Reihe anderer wichtiger Aufgaben
lösen konnte; und seine Nachfolger thaten nichts, um
die bedrängten Uferbewohner aus ihrer drückenden Lage
zu befreien. Wohl gingen letztere den Kaiser Augustus
von neuem um Hülfe an und versprachen sogar die
Kosten zu tragen, wenn ihnen der gewonnene Boden als
Eigentum überlassen würde. Allein ihr Vorschlag ver
wirklichte sich ebensowenig wie der später von Caligula
angeregte Entwurf; und es vergingen 100 Jahre, bis
Cäsars vierter Nachfolger, Claudius, der sich in kolos
salen Unternehmungen gefiel, die Trockenlegung des
Lacus Fucinus auszuführen beschlofs.
Als der Kaiser seine Absichten laut werden liefs,
boten sich ihm sofort mehrere Aktiengesellschaften an,
die gegen Überlassung des dem See abgerungenen
Landes die Entwässerungsarbeiten übernehmen wollten.
Aber sein Vertrauter und Günstling Narcissus, ein Frei
gelassener, der bei Claudius in hohem Ansehen stand
und die willkommene Gelegenheit benutzte, sich auf un
lautere Weise zu bereichern, überredete ihn, den Bau
selbst auszuführen; und es wurden zwei Pläne ausgear
beitet. Nach dem einen sollte das Binnenmeer in den
Tiber abgelassen werden; und man hätte dabei nur
nötig gehabt, den niedrigen Hügelzug von Cappelle zu
durchstechen, um den See mit einem Tiberzuflusse, dem
heutigen Salto, in Verbindung zu setzen. Da jedoch das
lockere Erdreich der Anlage eines Kanals nicht günstig
war, da obendrein der Salto höher lag als der See und
da man endlich Überschwemmungen für Rom und den
Tiber befürchtete, der ohnehin die Uferlandschaften
durch seinen wechselnden Wasserstand unaufhörlich be
drohte, so wurde dieser Gedanke wieder aufgegeben und
der zweite Vorschlag, die Ableitung des Fucinus in den
Liris, gutgeheifsen. Eine gänzliche Trockenlegung des
Sees war nicht beabsichtigt, sondern sein Spiegel sollte
nur um die Hälfte oder um drei Viertel seiner bisherigen
Höhe erniedrigt werden. Narcissus wurde mit der Be
aufsichtigung und Oberleitung der Arbeiten beauftragt.
Den unterirdischen Kanal selbst, der zu den grofsartig-
sten Werken des Altertums gehört und bis zur Durch
stechung des Mont Cenis der längste Tunnel der Welt
war, hat nicht er, sondern unzweifelhaft ein für seine
Zeit hochbegabter Ingenieur erbaut; und es ist ein ge
schichtliches Unrecht, dafs uns die über die Entwässerung
berichtenden Schriftsteller Tacitus, Plinius, Dio Cassius
und Sueton blofs den Namen des Claudius und des be
trügerischen Spekulanten Narcissus, nicht aber den des
Baumeisters überliefert haben.
Da die Beschaffenheit der Umgebung die Anlage
eines offenen Kanals ausschlofs, so griff man zu dem
im Altertum unerhörten Auswege, einen unterirdischen
Abzugsstollen zu graben. Wegen der durchaus unvoll
kommenen Entwickelung der technischen Hülfsmittel
mufste der dem Gotte Janus geweihte Mons Salvianus
mit dem Meifsel, ohne Anwendung von Sprengstoffen,
Dampfmaschinen und Präcisionsinstrumenten, durch
brochen werden: eine Riesenarbeit, an der nach Sueton
30 000 Sklaven 14 ) 11 Jahre lang ununterbrochen thätig
waren. Die Baukosten verschlangen die ungeheure
Summe von 250 bis 280 Millionen Lire, von denen ein
grofser Teil in die Taschen des Narcissus flofs. Im Jahre
52 nach Christi Gehurt war das gewaltige Werk voll
endet und wurde seiner Bedeutung entsprechend unter
glänzenden Feierlichkeiten eingeweiht, wobei der Kaiser
eine blutige Seeschlacht, eine Naumachie, veranstaltete,
die gröfste, die das Altertum je gesehen hat. Zwei
Flotten von je 50 Schiffen stiefsen aufeinander, und
19 000 Gladiatoren, Sklaven und verurteilte Verbrecher,
die man aus allen Provinzen des weiten Römischen Reiches
herbeigeschleppt hatte, mufsten sich auf Leben und Tod
bekämpfen. Allein der erwartete Erfolg blieb aus, weil
der Kanal dem Wasserabflufs nicht genügte und der
Seespiegel infolgedessen nur wenig sank. Neue Arbeiten
waren erforderlich, um den Querschnitt des Tunnels
oder des Emissärs zu vergröfsern, und nach ihrer Voll
endung fand ein zweites, weniger prunkvolles Ein
weihungsfest statt. Diesmal ergossen sich die Fluten
mit solchem Ungestüm in das unterirdische Bett, dafs
sie alles mit sich fortrissen und durch ihren gewaltigen
Druck das Mauerwerk des Kanals stellenweise zum
Einsturz brachten. Nach Tacitus’ Bericht erbebten die
Berge, die entsetzten Zuschauer flohen eiligst davon, und
das Schauspiel endete mit Schrecken und Verwirrung. Der
See fiel rasch um 4 4 / 2 m, dann hörte der Abflufs wieder
auf; und wenn auch der Tunnel im allgemeinen seinen
Zweck erfüllte, indem ein breiter Uferstreifen nicht mehr
von schadenbringenden Überschwemmungen heimgesucht
ward, so bedurfte es ständiger Überwachung und Nach
besserung, um die Thätigkeit der mühsam fertig ge
stellten Entwässerungsanlage nicht in Frage zu stellen
Da der Bau des Emissärs von den verschiedensten
14 ) Diese Angabe wird neuerdings, wie es scheint, aber
ohne Grund, von einigen angezweifelt.
Globus LXXII. Nr. 7.
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