GLOBUS.
ILLUSTRIERTE ZEITSCHRIFT FÜR LÄNDER- und VÖLKERKUNDE.
VEREINIGT MIT DER ZEITSCHRIFT „DAS AUSLAND“.
HERAUSGEBER: Dr. RICHARD ANDREE. >§¿§<4 VERLAG von FRIEDR. VIEWEG & SOHN.
Bd. LXXII. Nr. 9. BRAUNSCHWEIG. 4. September 1897.
Nachdruck nur nach Übereinkunft mit der Verlagshandlung gestattet.
Die Indianerstämme Brasiliens und die allgemeinen Fragen
der Anthropologie.
Eine Besprechung
(Mit 2
Über die allgemeinen Fragen der Anthropologie
herrscht heute eine solche Meinungsverschiedenheit und
vielfach eine solche Unklarheit, dafs auch derjenige, der
nur eine einzelne Frage auf diesem Gebiete gründlich
behandeln will, kaum umhin kann, sich dabei vorher
mit ihren allgemeinen Fragen auseinanderzusetzen und
sich gleichsam auf eigene Faust einen Weg durch die
Wildnis zu bahnen, die hier überall den Forscher umgiebt.
So hat auch Paul Ehrenreich in dem Buche, dem der
vorliegende Aufsatz gewidmet ist, und das sich mit der
Anthropologie der Indianer Brasiliens beschäftigt 1 ),
seinen Sonderuntersuchungen einen allgemeinen Teil
vorausgeschickt, der die allgemeinen Anschauungen und
Voraussetzungen enthält, aus denen sich jene ergeben.
Bei der grundsätzlichen Wichtigkeit dieses allgemeinen
Teiles möge es uns gestattet sein, bei ihm etwas aus
führlicher zu verweilen, während wir uns bei den Sonder
untersuchungen auf die Mitteilung der allgemeinen Er
gebnisse beschränken werden. Vorausgeschickt sei
dabei, dafs wir, in Übereinstimmung mit dem Charakter
dieser Zeitschrift, die Arbeit vorwiegend vom Standpunkt
des Ethnologen und Geographen würdigen und die Ent
scheidung über die eigentlichen anthropologischen
Einzelfragen dem Urteil der Fachmänner überlassen
müssen.
Ein grofser Teil der Unklarheit und Verwirrung, die
im Gebiete der anthropologischen Fragen herrschen,
entspringt im letzten Grunde der Thatsache, dafs der
Mensch ein Doppelwesen ist und der Betrachtnng zwei
verschiedene Seiten, eine geistige und eine körperliche,
bietet. So finden wir in den Lehrbüchern der Völker
kunde in der Regel einen Abschnitt über die körper
lichen Eigenschaften der Völker und über ihre Einteilung
nach körperlichen Gesichtspunkten vorausgeschickt. Da
die weiteren Betrachtungen sich dann in der Folge aber
vorwiegend der geistigen Seite der Völker, nämlich
ihrem Kulturbesitz, zuwenden, so steht der Rahmen, der
für diese Ausführungen gewählt wird, zu dem letzteren
in einem gewissen Widerspruche: die Klassifikation der
Völker, die Anordnung des Stoffes, erfolgt nach körper
lichen Gesichtspunkten, während für die Durchführung
der Betrachtung die geistigen Eigenschaften der
') Paul Ehr en reich, Anthropologische Stadien über
die Urbewohner Brasiliens, vornehmlich der Staaten Matto
Grosso, Goyaz and Amazonas (Purusgebiet). Mit zahlreichen
Abbildungen und Tafeln. Braunsclrweig, Druck und Verlag
von Friedrich Vieweg und Sohn, 1897.
Globus LXXII. Nr. 9.
von A. Vierkandt.
Tafeln.)
Völker mafsgebend sind. Es erscheint daher nur als
folgerichtig, und mufs als eine nachahmungswerte Neue
rung begrüfst werden, wenn Ratzel in seiner Völkerkunde
den anthropologischen Gesichtspunkt gänzlich beiseite
gelassen und den anthropologischen Begriff der Rassen
durch den unbestimmteren und allgemeineren, vor
wiegend von ethnographischen und geographischen Ge
sichtspunkten ausgehenden der Völkerkreise ersetzt hat.
Die Neigung, zwischen den geistigen und den körper
lichen Eigenschaften der Völker streng zu unterscheiden,
ist heute wohl ziemlich allgemein zur Herrschaft gelangt,
und es dürfte sich empfehlen, den Sprachgebrauch all
gemein in diesem Sinne zu gestalten, also Anthropologie
und Ethnologie als Gegensätze und gleichgeordnete Be
griffe, nicht aber das erstere Wort im allgemeineren, dem
letzten übergeordneten Sinne zu gebrauchen, unter An
thropologie also lediglich die Lehre von den körperlichen
Eigenschaften der Menschheit, die Rassenkunde zu ver
stehen, während man als das eigentliche Ziel der Ethno
logie heute wohl, ohne einen Widerspruch befürchten
zu müssen, die Erforschung des Kulturbesitzes der ein
zelnen Völker und seiner Entstehung und Umwandlung
hinstellen darf.
Demgemäfs können auch alle Bemühungen, die
Menschheit in Gruppen einzuteilen, von zwei verschie
denen Gesichtspunkten ausgehen, vom körperlichen
und vom geistigen oder kulturellen. Bei den
Einteilungen der ersteren Art nennt man die Gruppen
höherer Ordnung bekanntlich Rassen, während für die
Gruppen niederer Ordnung sich leider bis jetzt — ein
Grund für viel Unklarheiten und Verwirrungen — kein
allgemeiner Name eingebürgert hat, vielmehr Ausdrücke
wie Unterrasse, Typus, Komplexion vielfach in unbe
stimmtem und abweichendem Sinne gebraucht werden.
Bei den ethnologischen oder kulturellen Klassifikationen
betrachtet man in der Regel nur eine Art von Gruppen,
nämlich die Völker, oder, wie man bei tieferen Kultur
stufen statt dessen meistens sagen mufs, die Stämme.
Dafs ein Volk in der That eine kulturelle Einheit
bildet, wird heute wohl allgemein zugegeben. Worauf
anders wollte man z. B. die Gleichheit des Volkes bei
den alten und den heutigen Griechen angesichts der
starken und anhaltenden Beimengung slavischen Blutes
gründen als auf eine gewisse, durch - alle Zeiten sich
hindurchziehende Gleichheit des Denkens und Fühlens?
Pflegt man in der Regel dabei die Gemeinsamkeit der
Sprache als das Entscheidende hinzustellen, so ist
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