A. Vierkandt: Die Indianerstämme Brasiliens und die allgemeinen Fragen der Anthropologie. 13?
Leipziger Anthropologen Emil Schmidt in seinem Hand
buch („Anthropologische Messungen“, S. 183) empfohlen
wird.
Seiner Grundanschauung gemäfs hat daher Ehren
reich in seinem Werke eine möglichst eingehende Be
schreibung aller körperlichen Merkmale und Eigen
schaften der von ihm untersuchten Indianer geliefert,
sowohl der mefsbaren wie derjenigen , die sich nur be
schreiben lassen. Da aber der Gesamt
eindruck sich nie durch eine blofse
Aufzählung einzelner Eigenschaften er
schöpfen läfst, so bildet die Fülle von
Typenhildern — teils Köpfe, teils Voll
bilder —, die in meisterhafter Aus
führung dem Werke beigegeben, viel
mehr als einen blofsen künstlerischen
Schmuck, nämlich einen wesentlichen
Bestandteil der Arbeit. Es versteht
sich, dafs eine so erschöpfende Be
schreibung nur unter günstigen äufseren
Umständen und nur bei aufserordent-
lich viel Fleifs und Sorgfalt durch
führbar ist, und man begreift unter
diesem Gesichtspunkte die Neigung
der Anthropologie zur Bevorzugung
einzelner Merkmale leicht aus ökono
mischen Gründen. Dafs diese Art,
sich auf das Auge, auf das Gesamtbild,
auf den künstlerischen Totaleindruck
zu verlassen, ihre tiefe Berechtigung
hat, ist unbestreitbar. Wollte man
ihr den Vorwurf der „Subjektivität“
machen, so könnte man dem entgegen
halten, dafs die Bevorzugung ein
zelner Merkmale wegen der verschie
denen Möglichkeiten ihrer Auswahl
und der genaueren Art der Messung
im einzelnen mindestens ebenso sub
jektiv ist, so lange wir nicht über
die symptomatische Bedeutung ein
zelner Körpermafse genau unterrichtet
sind. Bei der Neigung des mensch
lichen Geistes zur mathematischen
Ausprägung seiner Vorstellungen
könnte man übrigens auf den Ge
danken kommen, auch den anthropo
logischen Gesamteindruck in festen
Zahlen niederzulegen. Man müfste
dazu aus einer grofsen Menge ein
zelner Zahlenwerte allgemeine Mittel
bilden, die jenem Gesamteindruck ent
sprächen. Einen Versuch in dieser
Richtung hat jüngst Koppen in dieser
Zeitschrift unternommen 3 ), und die
Karte, in der er seine Ergebnisse nieder
gelegt hat, hat den Vorzug, dafs sie
sowohl die Eigenartigkeit und Selbständigkeit der ein
zelnen Rassen zum Ausdruck bringt, als auch der That-
sache ihrer fliefsenden Übergänge gerecht wird.
Die brasilianischen Indianerstämme, die Ehrenreich
in seinem Buche von der anthropologischen Seite be
handelt, sind auch in ethnographischer Hinsicht
uns erst neuerdings bekannter geworden 4 )- Altere
Zeiten sahen hier nichts als einen regellosen Haufen
einzelner kleiner Stämme. Erst Martius vermochte eine
Anzahl von ihnen zu zwei Gesamtgruppen, den Tupi
und Ges, zusammenzufassen. Ein dringenderes Licht
brachten aber erst die Reisen Karls von den Steinen
und Ehrenreichs in den achtziger Jahren. Sie lehrten
uns vor allem zwei weitere grofse Familien kennen:
die Karaiben und die Maipure oder Arowaken. Worauf
gründete sich nun diese Gliederung der brasilianischen
Stämme ? Der Körperbau ist nicht in erster Linie ent
3 ) „Globus“, Bd. 68, S. 1 flg.
4 ) Ehrenreicli in Petermanns Mitteilungen, Bd. 37, S. 81
bis 89 und 114 bis 124.
Fig. 2. Paumari.
scheidend, ja die anthropologische Einteilung durch
kreuzt, wie wir sehen werden, die ethnographische sogar
in ausgeprägter Weise. Eben der letztere Umstand er
schwerte die Erkenntnis der Thatsachen sehr, solange
man sich nicht entschlofs, lediglich nach ethnographischen
Gesichtspunkten zu gliedern und es hierzu an einem
geeigneten und hinreichend bekannten Hülfsmittel ge
brach. Ein solches haben neuerdings die Sprachen
abgegeben. Allerdings ist bei ihnen für Einteilungs
zwecke bekanntlich der grammatische Bau viel wichtiger
als der Wortschatz, weil der letztere sich durch Ent
lehnungen bei Berührung mit anderen Sprachen viel
leichter als der erstere umgestalten kann. Leider sind
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Globus LXXII. Nr. 9.