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Full Text: Globus, 72.1897

138 A. Vierkandt: Die Indianer stamme Brasiliens und die allgemeinen Fragen der Anthropologie. 
nun vorläufig die brasilianischen Sprachen vorwiegend 
nach der ersteren, sehr wenig nach der letzteren Seite 
hin erforscht, so dafs die Zukunft hier noch manche 
Aufklärung bringen mufs. 
Wir wissen ferner, dafs Sprachverwandtschaft nicht 
immer Blutverwandtschaft bedeutet, dafs Sprachen über 
tragen und gewechselt werden können, dafs insbeson 
dere Eroberer die ihrige über unterworfene Stämme 
auszudehnen lieben und kulturell höher stehende Völker 
sie sogar ihren Eroberern aufzuzwingen vermögen. 
Nicht nur die chinesische und ägyptische Kultur hat in 
diesem Sinne ihre Assimilationskraft bewährt, sondern 
auch bei den Mangbattu und A - Sandeh finden wir die 
ursprüngliche Negerbevölkerung teils schon völlig auf 
gesogen, teils in kleine Splitter und Trümmer aufgelöst, 
die ihre Eigenart immer mehr verlieren, und in diesen 
Vorgang werden auch ihre stets neu gewonnenen Sklaven 
massen unaufhaltsam hineingezogen. Ehrenreich hat 
allerdings Recht, wenn er bemerkt, dafs derartige Vor 
gänge sich um so leichter abspielen, je höher eine Kultur 
ist, und dafs wir sie bei kulturell so tief stehenden 
Stämmen, wie den hier in Betracht kommenden, nicht 
erwarten dürfen. Sie sind hier in der eben angegebenen 
Form in der That schon durch den Umstand ausge 
schlossen, dafs hier die grofsen politischen Gebilde 
fehlen, die sie voraussetzen. Allein kann eine allmähliche 
Mischung innerhalb vieler einzelner kleiner Gruppen 
nicht auch hier stattfinden und kann deren schliefsliches 
Ergebnis nicht statt eines Gleichgewichtes der beiden 
ursprünglichen Bestandteile auch ein Überwiegen der 
Gesittung und Sprache der einen sein? Wir werden 
doch wohl mehr, als Ehrenreich zuzugeben geneigt ist, 
der Möglichkeit eingedenk bleiben müssen, dafs die 
ethnographische Verwandtschaft keine durchgängige 
und ausnahmslose Gemeinschaft des Ursprunges zu be 
deuten braucht, dafs vielmehr ein verschiedenartiger 
Ursprung der von ihr umfafsten Völkerbestandteile mög 
lich ist. 
Sehr lehrreich sind Ehrenreichs Ergebnisse hinsicht 
lich der Wanderungen der verschiedenen Völker- 
gruppen. Sie haben das alte Trugbild, dafs die farbige 
Bevölkerung Amerikas in einem geschlossenen Zuge über 
die Beringstrafse eingewandert sei und ihre alte Ord 
nung bis auf den heutigen Tag bewahrt habe, gründlich 
zerstört. Für die genannten vier Familien haben sie 
allein drei Herkunftsmittelpunkte ergeben: die Tupi 
haben sich aus der Mitte Brasiliens nach allen Seiten 
verbreitet, die Karaiben, von denen nur noch wenige 
Stämme im mittleren Brasilien hausen, haben sich von 
dort nach Nordosten über Guayana und Venezuela, 
ja über die Kleinen Antillen bis Haiti ausgebreitet; und 
die Ges sind umgekehrt von Osten her ins Innere ein 
gewandert. 
Ehrenreich hat jedoch in seinem Buche den Stoff 
— den Grund werden wir später erkennen — nicht 
ethnographisch, sondern geographisch gegliedert. In 
letzterer Beziehung kommen drei Gebiete in Betracht. 
In Buenos Aires hatte Ehrenreich Gelegenheit, zwei 
Chacoleute, einen Toba und einen Mataco, zu messen. 
Sie gehören den kriegerischen, erst kürzlich unter 
worfenen nomadischen Stämmen der Ebenen des oberen 
Paraguay an und sind für das Buch die einzigen 
Vertreter dieses ersten geographischen Gebietes. Das 
zweite Gebiet liegt nordwestlich vom Quellgebiete 
des Madeira am Fufse der Anden und weiter östlich 
und ist ein feuchtes Urwaldgebiet. Die hier behan 
delten Stämme, die Ehrenreich als Purusstämme zu- 
sammenfafst, gehören sämtlich zur Familie der Arowaken; 
es sind die Paumari, die Yamamadi und die Ipurina 
(siehe die Tafel 1). Kulturell verhalten sie sich nicht 
gleich: obwohl der Ackerbau von allen getrieben wird, 
ist doch bei den Paumari der Fischfang die Haupt 
beschäftigung, derart, dafs sie auf Flöfsen inmitten der 
den Flufs begleitenden Lagunen hausen, während die 
Yamamadi reine Waldbewohner sind, und die Ipurina, 
ebensowohl Jäger wie Fischer und Ackerbauer, mehr als 
die anderen Stämme von der europäischen Kultur er 
griffen und vielfach mit der Kautschukgewinnung be 
schäftigt sind. Bei den Paumari fällt dem Beobachter 
die Häufigkeit jener Unregelmäfsigkeit in der Hautfarbe 
auf, die unter dem Namen der Fleckenkrankheit zuerst 
von Martius beschrieben ist und auch sonst in Süd 
amerika nicht selten auftritt. Der ganze Körper erscheint 
dabei mit rundlichen schwärzlichen Flecken von ver 
schiedener Gröfse übersäet, die sich dem Gefühl als 
leichte Verhärtungen der Haut zu erkennen geben. 
Merkwürdig ist, dafs älteren Leuten hier eine „aus 
geprägt semitische Physiognomie“ eigen ist, wovon 
unsere Abbildung (Fig. 2) ein Beispiel zeigt. Betrachtet 
man die abgebildeten Yamamadiköpfe, so fällt die 
regelmäfsig ovale Form des Gesichtes, bei einem Bilde der 
Anklang an den europäischen und bei allen der Mangel 
eines solchen an den mongolischen Typus auf. „Im 
Gegensatz zu den relativ einheitlichen Yamamadi zeigen 
die Ipurina zwei anscheinend scharf unterschiedene 
Typen, die, nebeneinander gesehen, zunächst gar nicht 
den Eindruck machen, als wären sie Mitglieder desselben 
Stammes. Erst die genauere Betrachtung läfst den 
gröberen Typus als eine gleichsam karikierte Form des 
edleren erscheinen.“ Der edlere Typus, der sich bei 
mancher Gestalt sehr dem kaukakisch - europäischen 
nähert, ist durch höhere Körpergestalt ausgezeichnet, 
während der gröbere (siehe Tafel) weit unter Mittelgröfse 
zurückbleibt, durch niedriges und stark verbreitertes 
Gesicht, kleine Augen, stark gekrümmte Nase, grofsen 
Mund und sehr volle Lippen ausgezeichnet ist. 
Das dritte geographische Gebiet wird von jenem 
Hochlande von Matto Grosso und Goyaz gebildet, dem 
der Paraguay nach Süden, der Tapayoz, Schingu und 
Tocantins nach Norden entströmt. Zunächst hat Ehren 
reich eine Anzahl Stämme am Schingu untersucht. Wir 
nennen von ihnen die B a k a i r i, die neuerdings weiteren 
Kreisen durch die schönen Arbeiten Karls von den 
Steinen bekannt geworden sind, der mit glänzendem 
Erfolg eine Art experimenteller Völkerpsychologie mit 
ihnen trieb und besonders über das Zählen und die Or 
namentik primitiver Völker uns die überraschendsten 
Aufschlüsse gebracht hat. In anthropologischer Hin 
sicht ist bei den Bakairi, die ethnographisch zur Gruppe 
der Karaiben gehören, die Fülle der verschiedenen Typen 
überraschend. Ehrenreich vermochte ihrer drei zu 
unterscheiden. Erstens einen an die Südeuropäer an 
klingenden, von dem die Tafel 2 und Figur 1 uns Bei 
spiele geben: „viele Individuen unterscheiden sich in 
ihrer Gesichtsbildung kaum von Südeuropäern, nament 
lich wenn das Haar etwas gelockt und die Hautfarbe in 
die helleren Nuancen des Gelbbraun übergeht“. Der 
ausgeprägtere Bakairitypus läfst dann wieder zwei 
Formen, eine edlere und eine gröbere, erkennen. „Letz 
tere ist ausgezeichnet durch niedrige Stirn, stark vor 
springende Adlernase mit etwas überhängender Spitze 
(sogen. ,Vogelgesicht 1 ), kleine, mandelförmig geschlitzte 
Augen mit schwach ausgeprägter Schrägstellung, grofsen 
Mund mit vollen Lippen, Prognathie und starkes Zu 
rücktreten des Kinns. Im Verein mit lockigem Haar 
enthält dieser Typus etwas frappant ,Semitisches 4 . 
Die edlere Form nähert sich mehr dem obengenannten 
kaukasischen Typus 4 , bei leichterer Nasenkrümmung
	        
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