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Die Reise des Prinzen Heinrich von Orléans von Tonking nach Vorderindien
Fig. 6. Junges Lissu-Mädchen.
dem entsprechend auch reich mit Altären versehen. —
Die Bevölkerung der Gegend hält sich in wenig ein
ladenden Dörfern auf. Ihre Häuser sind sämtlich Holz
bauten, deren Wände aus stärkeren Seitenpfählen mit
Bambusfüllung bestehen. Das Dach ohne Schornstein
trägt eine ziemlich nachlässig gefertigte Decke von Palrn-
blättern. Der Eingang liegt meist so hoch, dafs man
erst über eine Stiege in das Innere gelangen kann. Dort
sieht es durchweg ärmlich aus, da es fast ganz an Mo
biliar — nach unseren Begriffen — fehlt. Das Schlaf
zimmer ist jedoch besonders abgeteilt und verschlossen.
Einige Krüge, Bamhusgefäfse, Efswaren, Salz und die
notwendigen Haus - und Ackergeräte machen die ganze
fahrende Habe aus. Die Insassen sind Tschin-Pai
vom Stamme der Pai oder Thai, die sich im Innern
der Halbinsel über das mittlere und nördliche Siam,
über die Laos- und Schanstaaten ausgebreitet haben
und eine eigenartige mongoloide Völkergruppe dar
stellen. Die Pai des Yünnan tragen nicht einmal den
Zopf; sie haben eine alphabetische Schrift, die der lao
tischen Schrift sehr nahe steht. Auch in ihrer Sprache
und ihren Sitten unterscheiden sie sich kaum von den
Laostämmen. Das Haar wird bei beiden Geschlechtern
auf dem Kopfe zu einem Knoten gerollt und durch ein
Stück gelben Baumwollenzeuges zusammengehalten.
Die Männer lassen sich an den Schenkeln häufig dunkel
blaue Arabesken eintättowieren; manche besitzen der
gleichen Zierat auch auf der Brust, dann allerdings in
blafsroter Farbe. Schon in der Jugend werden Knaben
und Mädchen die Ohrzipfel durchlöchert. Mittels ein-
gesteckter Papierrollen sucht man die Öffnung fortgesetzt
zu erweitern, bis endlich Scheiben vom Umfange eines
Zweifrankenstückes darin Platz haben. So weit bringen
es aber nur die Frauen; die Männer pflegen etwa mit
20 Jahren die Papierrollen fortzulassen. —
Wenig östlich von Tian-Pi stieg Prinz Heinrich
mit seiner Karawane über die 1600 m hohe Gebirgskette
in das Mekongthal hinab. Der Strom rinnt hier in
einer mittleren Breite von 120 bis 150 m und bedeuten
der Tiefe stracks nach Süden. Leutnant Roux lotete
zweimal, fand aber mit 45 m noch keinen Grund. Sein
Bett stellt sich als eine schroffwandige Scharte dar
zwischen dicht bewaldeten,
chaotisch zusammengescho
benen Bergen, die sich anfäng
lich nur 900 m, je weiter nach
Norden aber um 1100 bis
1500 m über den Wasser
spiegel erheben. Von Zeit zu
Zeit treten gefährliche Schnel
len oder Strudel auf (Fig. 3),
die im Bunde mit ungezählten
Klippen und Riffen den Flufs
in das ärgste Hemmnis für
Handel und Verkehr verwan
deln. Seine Ufer sind völlig
vereinsamt. „Le fleuve coule
au milieu de solitudes sauvages
oü toute culture est impossible. “
Die Bevölkerung dieser Wild
nis gehört teils zu den Pai,
teils zu den Lolo. Letztere
bilden keine geschlossene
Masse, sondern sind von den
eingewanderten Chinesen in
kleinere Gruppen aufgelöst
und zersprengt. Sie finden
sich noch häufig im südlichen
Yünnan; schon beim Über
gang vom Roten zum Schwarzen Flusse wurden An
siedelungen der Lolo beobachtet. Sie scheinen mit den
gleichfalls in Yünnan sefshaften Stämmen der Lokai
und Lissu in enger Verwandtschaft zu stehen. Dar
auf deutet u. a. die grofse Zahl gemeinsamer Wurzeln
in den Sprachen dieser Völker hin. Die Schrift der
Lolo ist hieroglyphisch, aber von der chinesischen völlig
abweichend. Der Prinz erwarb einige alte Manuskripte
in dieser Schrift, die heute niemand zu verstehen vor-
giebt. Nur in Shunao fand sich ein alter Zauberer, der
im stände war, einen Teil der Handschriften ins Chine
sische zu übersetzen und 4 [umzuschreiben, so dafs
eine weitere Erforschung der Sprache damit ermög
licht ist.
Wie unsere Bilder zeigen (Fig. 4), machen die Lolo
in Wuchs oder Antlitz keinen üblen Eindruck. Die
Männer kleiden sich bereits nach chinesischer Mode; die
Frauen dagegen — die übrigens sehr zur Koketterie
neigen — bewah
ren noch ihre
altertümlichen,
hübsch ausgenäh
ten und bordier
ten Gewänder,
deren einige als
wahre Pracht
stücke der ethno
graphischen
Sammlung des
Prinzen einver
leibt sind.
Eine vierte,
nicht minder be
achtenswerte Völ
kerschaft lernte
die französische
Expedition auf der
Weiterreise nach
Norden in dem
schmalen Hoch
gebirge zwischen
Mekong und Sa- Fig. 7. Lissu-Frau mit Kind.