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Die Reise des Prinzen Heinrich von Orléans von Tonking nach Vorderindien.
genauer von 25° 50' bis 26° 12' nördl. Br., vorüber
gehend an den Saluin begab, hat diese incognita terra
um ein Geringes vermindert. Es wurde aber damit aufs
Neue erwiesen, dafs alle diese Stromabschnitte unfrag
lich ein und derselben grofsen Ader angehören, und dafs
man heute nicht mehr daran denken darf, den hoch
Die Bewohner der Gegend waren Lutse und Lissu.
Die ersteren unterschieden sich durch ihre Sprache und
den auffallend kleinen Wuchs — das Mittel aus zehn
Messungen ergab 1,56 m — von allen bisher gesehenen
Völkern. Bei Tionra bemerkten die Franzosen mehrere
Frauen von geradezu zwerghafter Gestalt. Trotzdem
Fig. 14. Pik Francis Garnier, 4300 m.
sind die Leute kräftig und gewandt und bringen es
häufig zu langer Lebensdauer. Der Lutsehäuptling von
Tomalo (Fig. 15) machte sich der Expedition recht
nützlich; er sorgte, wenn auch erst nach mehrtägigem
Zögern, für frische Träger und Lebensmittel und wurde
deswegen in vollem Staate photographisch verewigt.
Wie die Pässe im Osten Tomalos bis 4000 m ansteigen,
so mufsten auch im Westen gleich hohe Übergänge ge
nommen werden, ehe der Prinz die Wasserscheide
zwischen Saluin und Irawadi erstieg. Der Sekebach,
an dem man bergan schritt, zeigte bald morastige Ufer
und Neigung zur Sumpfbildung. Dann folgte noch ein
schroffer Aufstieg von 500 m, und die trennende Kette
war erklommen. Die Instrumente gaben 3800 m Er
hebung an.
Da jetzt die Nebel fielen, so wurde nach allen Seiten
der Ausblick auf die umgebende ungeheure Gebirgswelt
frei. Fern im Norden dehnte sich ein breites, menschen
leeres Schneemassiv mit erhobenen Gipfeln endlos vor
den Fremden aus. Nur die wuchtig eingerissene Scharte
des Kiu-Kiang oder Turongflusses liefs sich deutlich
durch das Berggewirr verfolgen. Auch im Westen und
Südwesten zogen sich die Ketten dicht geschart in langen
Reihen längs der Mittagskreise hin. Aber es dauerte
noch fast zwei Tage, ehe die Expedition die Ufer des
Kiu-Kiang betreten konnte und damit zu den Wohn
sitzen des Kiutse Volkes gelangte. Nach den franzö
sischen Beobachtungen sollen die Kiutse mit den vor
her beschriebenen Lutse desselben Stammes sein. Das
beweisen Sprache, Lebensart und Tracht; nur geben
sich die Kiutse in allem roher und wilder als ihre öst
lichen Verwandten. Selbst die Frauen laufen halb nackt
und mit völlig ungeordneten Haaren umher, schmücken
sich aber bis zum Überflufs mit Halsbändern aus bunten
nach Tibet vorgreifenden Oberlauf des Saluin oder, wie
er dort heifst, des Loutse-Kiang mit dem Irawadi in
Verbindung zu setzen. Diesen Fehler begeht z. B. noch
die Tibetkarte der Londoner geographischen Gesellschaft
von 1894, die den Flufs etwa in der Höhe von Tseku
bei der Lamaserie Tschotong entspringen läfst.
Bei Tschotong liegt der Wasserspiegel des Saluin
nach Roux’Bestimmungen 1593 m über dem Meere; aber
schon halbwegs nach Tasu, wo der Prinz auf Tomalo
abbog, wurden nur noch 1525 m gemessen. So gewaltig
vermindert sich auf kurze Entfernungen das Gefälle!
Fig. 15. Der Häuptling von Tomaio.