Dr. Seler: Eine angeblich in Nordamerika gefundene Aztekenhandschrift. — Bücherschau.
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Eine angeblichem Nordamerika gefundene
Aztekenhandschrift.
In den letzten Wochen erschienen in verschiedenen
Blättern mehr oder minder ausführlich gehaltene Notizen
über eine Aztekenhandschrift, die in einem kleinen
Orte des Staates Jowa gefunden worden sei. Am
2. September des vorigen Jahres sei ein Arbeiter, namens
Griffith, der im Dienste der Wasserwerke des Jowaer
Städtchens Fairfield stand, damit beschäftigt gewesen,
eine Erdaushebung zu bewerkstelligen. Dabei habe er
3' unter der Erde ein Stück Holz von 1' Länge, 8" Breite
und 5 bis 6" Durchmesser angetroffen, das ganz das
Ansehen eines gewöhnlichen Holzstammes gehabt habe,
nur sei es ringsum auf der Oberfläche mit einer harz
artigen Masse überzogen gewesen. Eine nähere Unter
suchung hätte gezeigt, dafs der Block hohl war, aus
Eichenholz bestand und in roher Weise, anscheinend
mit einer Steinaxt, bearbeitet worden war. Die harz
artige Masse sei dadurch gleichmäfsig auf der Oberfläche
verteilt worden, dafs man den hohlen Stamm über dem
Feuer hin- und hergewandt habe, denn der Stamm sei
nicht nur voller Rufs, sondern teilweise angekohlt ge
wesen. Als ein leichter Schlag mit der Picke die innere
Höhlung blofsgelegt hätte, hätte man in dieser eine Rolle
aus Birkenrinde gefunden, die auf der einen Seite
mit seltsamen Schriftzeichen bedeckt gewesen sei. Die
drei Teile, aus denen die Rolle bestand, hätten in der
Länge 3 bis 4", in der Breite 2 bis 3" gemessen. Die
Rinde sei von aufserordentlicher Dünnheit gewesen, und
ihre natürliche Farbe habe sich, dank des luftdichten
Harzverschlusses, wohl konserviert. Die Zeichen seien
sorgfältig, mit einer Art roten Pflanzensaftes, aufgemalt
gewesen. Der Kurator des archäologischen Museums
der Universität des Staates Ohio, Warren Moorehead,
habe von diesem Funde gehört und, seine Wichtigkeit
erkennend, ihn alsbald für die Sammlungen des ihm
unterstellten Museums erworben. Er habe sofort erkannt,
dafs die Schriftzüge aztekisch oder Maya seien. Der
Einsender setzt dann noch hinzu, dafs in der ganzen
Welt überhaupt nur fünf solcher Handschriften bekannt
seien, dafs die Sprache der Azteken bis heute niemand
entziffern könne, dafs die gesamten Schriftwerke dieses
merkwürdigen Volkes von den fanatischen Priestern
zerstört worden seien, damit kein Schriftdenkmal der
Welt Kunde über die Gesittung der Azteken gebe.
Mir ist, aufser obigen eingehenderen Mitteilungen,
auch eine Abbildung der Rindenstücke mit den Malereien
darauf gezeigt worden, die ich hier reproduziere. Hier
hat das Zeichen, neben das ich in der Wiedergabe die
Ziffer 1 gesetzt habe, allerdings eine Ähnlichkeit mit
der Art, wie in den Maya - Handschriften die Ziffer 13
geschrieben wird. Aber im übrigen hat keine der
Linien - und Punktgruppen auch nur die entfernteste
Ähnlichkeit mit Maya- oder gar mit aztekischen Hiero
glyphen. Die Mexikaner und die Völker Centralamerikas
schrieben auf Maguey- oder Rindenpapier oder auf ge
gerbten und geglätteten Thierhäuten. Birkenrinde ist
dagegen das bekannte Schreibmaterial des Algonkin und
anderer Indianerstämme in der Umgebung der grofsen
nordamerikanischen Seen. Und es unterliegt wohl
keinem Zweifel, dafs — wenn wir es überhaupt hier
mit einem authentischen Funde zu thun haben —, kein
anderer als die ehemals in jenen Gegenden ansässigen
Indianerstämme der Urheberschaft bezichtigt werden
dürfen. Freilich haben die hier vorliegenden Zeichen
auch keine Ähnlichkeit mit den sonst bekannten Indianer
malereien.
Die übrigen Bemerkungen des Einsenders beruhen
wohl auf Mitteilungen, die Herr Warren Moorehead ihm
mit Beziehung auf die Maya - Handschriften gemacht
hat, und die der Einsender falsch verstanden und ver
kehrt wiedergegeben hat. Es lohnt nicht, darauf näher
einzugehen. Was hat aber den Einsender dazu bestimmt,
verschiedene hiesige Zeitungen mit diesen Mitteilungen
zu beglücken? Sollte ein geschäftliches Interesse vor
liegen ?
Steglitz bei Berlin, 7. Juni 1897. Dr. Seler.
Bücherschau.
Curt Müller: Die Staatenbildungen des Oberen
Uelle- und Zwischenseengebietes. Ein Beitrag zur
politischen Geographie. Inaugural-Dissertation. Leipzig,
Druck von C. G. Naumann, 1897.
Die vorliegende Arbeit bildet einen erfreulichen Beweis
für die Fruchtbarkeit der allgemeinen von Batzel für die
Staatenbildung und die Fragen der politischen Geographie
entwickelten Gesichtspunkte. Sie beschäftigt sich mit den
staatenbildenden Leistungen der hellfarbigen Stämme, die in
dem im Titel angegebenen Teile Afrikas sich über eine
ältere, sefshafte, dunkle Bevölkerung als Eroberer gelagert
haben. Bedenkt man, dafs das staatliche Leben aller sefs-
haften Halbkulturvölker sich um den Gegensatz zwischen
einer unterworfenen ackerbauenden Volksschicht und einer
herrschenden kriegerischen Klasse dreht, so springt die Be
deutung des hier behandelten Gegenstandes ins Auge. Freilich