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K . Th . Preuß : Der Ursprung der Religion und Kunst .
Wer die Naturvölker kennt , weiß sehr wohl , daß eine solche Gedankenverbindung zwischen der Zeugung des Menschen und dem Gedeihen überhaupt ganz der wöhnlichen Denktätigkeit jener Stufe entspricht . Ich möchte dafür nur ein Beispiel anführen . Wenn die Baronga der Delagoahai ein Kind von der Muttermilch entwöhnen wollen , so macht der Arzt aus den Blättern einer bestimmten Grasart , die an der Spitze vier einandergehende Ähren hat , ferner aus Ziegenfett und seinem eigenen semen virile ein Kügelchen , das er lich in die Hütte der Eltern bringt . Vater und Mutter dörren es dann auf einem Scherben . „ Wenn sich der Rauch zu entwickeln anfängt , setzen sie ihm das Kind aus . Sobald die Medizin in Kohle verwandelt ist , verisiert sie der Vater in der hohlen Hand , mischt sie mit ein wenig Fett und reibt damit den Körper des Kindes ein , zuerst den Rücken der Wirbelsäule entlang und dann die Glieder . Er drückt schließlich stark die Muskeln , damit das belebende Prinzip in das Innere des Organismus eindringt ; dann wird er »den Rücken» des kleinen Knaben »gestärkt» haben . Das Kind wird gerichtet» sein“ 84 ) .
IV .
Der Zauber des Hauches .
Dem Zauber der Kohabitation verwandt , aber teils in anderer Richtung wirkend , ist der Zauber des Zeugungshauches , wie ich ihn nennen möchte . Auch er führt uns zu dem Leitmotiv in dem Studium der Ur - religion , zu dem Satze , daß Götter dieselbe Zaubermethode haben wie früher gewöhnliche Wesen . Kann man das nachweisen , so ist die Entstehung von Gottheiten aus ihnen gesichert . Der Animismus bildet dann nur die Vermittelung zwischen beiden .
Im Codex Borgia gibt es unter den Darstellungen der Vermählung ein sehr merkwürdiges Bild ( Abh . 10 ) . Zwei Gestalten , von denen die eine das Handgelenk der anderen umfaßt hält85 * ) , sind durch einen von Mund zu Munde gehenden roten Gegenstand miteinander verbunden . Was dieses Objekt an sich darstellen soll , ist nicht klar , es ist aber sicher , daß es zum geschlechtlichen Vorgang in Beziehung steht . Nun wird der Beischlaf im kanischen sehr dezent gewöhnlich durch zwei Personen zum Ausdruck gebracht , die einander gegenüber unter einer Decke sitzen . Zwischen ihnen ist der stab der Fruchtbarkeitsdämonen oder der Feuerbohrer , ebenfalls ein Fruchtbarkeitszauber , aufgepflanzt . Die Darstellungen sind also nicht direkt realistisch . gegen muß das rote Fluidum von Mund zu Mund des einen Paares einer alten Anschauung von der Natur des wirklichen Vorgangs entsprechen .
Ich kann mir in der Tat bei diesem Hauch , der es trotz allem sein muß , nichts anderes als den uralten mexikanischen Glauben vorstellen , daß zur Zeugung eines mit Odem begabten Kindes der Hauch des Mannes in den Mund der Frau ebenso notwendig sei wie die in - jectio seminis als Stoff für die ganze Gestalt des Kindes . Das ist eine Idee , die man der ältesten Menschheit wohl Zutrauen darf . Der Hauch ist aber durchaus keine Seele , sondern eben nur das natürliche Atmen , ohne das der Mensch tot ist . Daß sich Gebräuche trotz des Zusammenbruchs der Anschauung , die sie ins Leben rief , erhalten , ist allbekannt und besonders für diese , ein
84 ) Henri A . Junod , Les Ba - Ronga , Neuchâtel 1898 , p . 19 , 490 .
85 ) Im Nacken des einen Menschen ist eine
kugel mit Feder daran angebracht , wie sie häufig auf dem
Feuerhecken als Opfergabe od . dgl . zu sehen ist .
geheimnisvolles Priesterwissen enthaltenden Bilderschriften nicht wunderbar .
In den Bilderschriften ist unser Bild der einzige liche Rest dieses Glaubens , aber ich meine Grund zu der Annahme zu haben , daß auch alle anderen Darstellungen der Vermählung darauf zurückgehen . Denn mit der mexikanischen Heiratszeremonie , dem Zusammenknüpfen der Gewänder , kann das Sitzen des Paares unter einer Decke , wie es gewöhnlich in den Bilderschriften gestellt ist , nicht verglichen werden . Der Coitus ist ausgeschlossen , da sich das Paar gar nicht berührt . gegen strömt der einen Figur im Codex Vaticanus Nr . 37738fi ) — die andere ist verlöscht — ebenfalls ein kurzes , rotes Etwas aus dem Munde , das nicht gut die Zunge sein kann , aber nach dem Vorhergehenden wohl der Zeugungshauch ist . So scheint die Decke , die ja auch fehlen kann ( Abb . 10 und Codex Vaticanus 3773 , S . 48 ) , unwesentlich zu sein .
Solche fälschlich angenommenen Eigenschaften der Menschen oder Tiere , die man später als nicht vorhanden erkennt , pflegen dann , wie erwähnt , Fähigkeiten der Götter zu werden . Das ist auch mit der Zeugung durch den Hauch in Mexiko der Fall , nur daß natürlich der Gott mit dem Hauch allein auskommt . Der Windgott Quetzalcouatl ist dort der Schöpfergott kat’ exochen , besondere der Menschenschöpfer . Über ihn hat nun ein Interpret des Codex Telleriano Remensis87 ) folgende krause Angabe : „ Dieser Quetzalcouatl war der Gott ,
von dem man sagte , daß er die Welt schuf , und deshalb nennt man ihn Herrn des Windes , weil , wie man sagt , dieser Gott Tonacatecutli den Willen hatte , diesen Quetzalcouatl durch seinen Hauch zu erzeugen“ 8S ) .
Wir verstehen den Satz jetzt . Der Vater aller Götter , der dem Kultus und dem praktischen Leben entrückte Tonacatecutli , ist auch der Vater Quetzalcouatls . Dieser , der eigentliche Welt - und Menschenschöpfer , machte alles durch seinen Hauch und wurde deshalb zum Gott des Windes . Aber schon sein Vater mußte ihn durch seinen bloßen Hauch erzeugen , damit er auf dieselbe Weise seine Schöpfertaten vollbringen konnte 89 ) .
Entwickelungsgeschichtlich freilich ist , wie wir aus Kapitel I gesehen haben , Quetzalcouatl zunächst Erbe eines Vogels , der durch seinen Gesang oder Hauch den Wind hervorruft . Auch sein Name Quetzalcouatl , „ felderschlange“ , ist nur die spätere Konzeption des Windes , der wie eine geflügelte Schlange über die sich wiegenden Halme und die wogende See gleitet90 ) . Als Gott , der
86 ) ed . Herzog von Louhat , p . 87 .
87 ) ed . Hamy ( Herzog von Loubat ) Bl . 8 , 2 .
m ) Este quetcalcoatle fue el que dizen que hizo el mundo y asi le llaman señor del viento . Porque dizen queste tona - catecotli a el le pareció soplo y engendro a este quecalcoatle .
89 ) Der späte , in seinem historischen Teil bereits die spanische Zeit behandelnde Codex Vaticanus Nr . 3738 sagt an der betreffenden Parallelstelle ( Bl . 14 , 2 ) : „ Tonacatecutli , der auch Citlalatonac hieß , erzeugte , wie man erzählt , als es ihm angebracht erschien , diesen Quetzalcouatl nicht durch Beischlaf mit einer Frau , sondern nur durch seinen Hauch ( flato ) , indem er , wie wir oben ( Bl . 7 , 1 ) erwähnt haben , seinen Gesandten zu jener Jungfrau von Tula schickte . “ t In Tula residierte Quetzalcouatl als Priesterkönig , und ähnlich , wie Christus geboren wurde , indem sein himmlischer Vater den Engel Gabriel zu der Jungfrau Maria sandte mit der Meldung , „ daß der heilige Geist über sie kommen und die Kraft des Höchsten sie überschatten werde“ ( Ev . Luc . 35 ) , schickte Tonacatecutli seinen Boten vom Himmel zu einer Jungfrau in Tula , der ihr sagte „ che quel dio voleva , che concepesse un figliuolo“ , was denn auch sofort „ senza congion - tione di huomo“ geschah . Hier vertritt der Hauch ( fiato ) den heiligen Geist der Bibel , sonst ist alles gleich und halb die Erzählung , abgesehen von der Bedeutung des Hauches , vielleicht auf christlichen Einfluß zurückzuführen .
90 ) Vgl . Ursprung der Menschenopfer , Globus 86 , S . 113 f .
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