Die künstlichen Zahnverstünimlungen in Afrika im Lichte der Kulturkreisforschung.
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Die künstlichen Zahnverstünimlungen in Afrika
im Lichte der Kulturkreisforschung.
Mit 45 Abbildungen auf 5 Tafeln, 2 Textfiguren und 1 Karte.
Von Zahnarzt Dr. med. dent. Hans Liqnitz, Hamburg.
(Fortsetzung.)
V.
Die afrikanischen Völker, die keine Zahnverstümmlungen ausüben.
Betrachten wir das sich aus dem Vorhergehenden ergebende Verbreitungs
bild der Zahnverstümmlung als solche, so erkennen wir, daß eine Anzahl
afrikanischer Völker frei von der Sitte ist. Diese nehmen einerseits im Norden,
anderseits im Süden einen breiten Raum ein. Das erstgenannte Gebiet erstreckt
sich weit über den Südrand der Sahara hinaus und deckt sich, näher besehen,
fast streng mit der Ausbreitung des Islams. Bei den späteren vergleichenden
Erörterungen über das Vorkommen der Zahnverstümmlung in Indonesien, also
einem Gebiet, das wenigstens in seinem nördlichen Teil in viel intensiverer
Weise von der Lehre Mohammed’s beeinflußt wurde, tritt uns eine ganz merk
würdige Erscheinung entgegen. Trotz des Islams finden wir Zahnverstümm
lungen über den ganzen malaiischen Archipel verbreitet. Zweifellos ist ja die
Zahnverstümmlung das Primäre, der Islam das Sekundäre. Aber es fehlt nicht
an Überlieferungen, die beweisen, daß der Islam hier überaus anpassungsfähig
ist. Er wird zur Volksreligion und sein Prophet der Held von Mythen und
Legenden, in denen sich uralte Sitten widerspiegeln. So wird an zahlreichen
Orten Sumatras, Javas und Borneos erzählt, Mohammed sei der erste gewesen,
der geschliffene Zähne hatte (135, 1884, S. 125; 1883, S. 404). Aber „ein ab
lehnendes Verhalten des Islam gegen die Sitte kann man in dem Zuge lesen,
daß auf Java und auf Sumatra Priester selbst zum Teil sich von der eigenen
Befolgung ausschließen und daß vereinzelt auch die Ansicht von seiten der
Eingebornen verlautbar ist, daß der Sitte eine Stelle des Koran widerspreche“
(117, S. 12). Welche Stelle damit gemeint ist, wäre der Feststellung wert.
In Nordafrika liegen aber die Verhältnisse so, daß im Bereiche des Islams
keine Zahnverstümmlungen zu finden sind. Ich möchte das Auftreten der Zahn
verstümmlungen in Islamgrenzgebieten beinahe als sicheren Beweis dafür an-
sehen, daß die Lehre Mohammed’s hier weiter nichts als Firnis über einer
innerlich durchaus heidnischen Kultur ist. Die Zahnverstümmlung ist also
gleichsam ein Gradmesser für die Intensität des Islams in Afrika. Als typisches
Beispiel dafür ist die Zuspitzung der Zähne bei den Mandingo zwischen
Casamenge und Rio Grande aufzufassen.
Der Einfluß der Fulbe auf die Tschadseegebiete findet auch in der Zahn
verstümmlung seinen Ausdruck. Die eingesessenen Stämme mußten in die
Gebirge weichen, wo wir fast ausschließlich in den Adamaua-Ngaundere-
Bergländern Zahnverstümmlungen finden. Dem wäre entgegenzuhalten, daß