Vor- und frühgeschichtliche Völkerwanderungen
im vorderen Orient.
Von Dr. V. Christian, Kustos der Ethnographischen Abteilung des Naturhistorischen
Hofmuseums in Wien.
Verzeichnis der Abkürzungen:
GJ. = Geographical Journal, London.
JAOS. = Journal of the American Oriental Society, New Haven.
JRAI. = Journal of the Royal Anthropological Institute, London.
MAGW. = Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft in Wien.
MGGW. e= Mitteilungen der geographischen Gesellschaft in Wien.
MVAG = Mitfeilungen der vorderasiatischen Gesellschaft in Berlin.
ZA. — Zeitschrift für Assyriologie, Berlin.
ZE. = Zeitschrift für Ethnologie, Berlin.
Der vordere Orient zeichnet sich vor allen anderen Gebieten dei^Erde
dadurch aus, daß wir seine Geschichte weiter als sonstwo zurückverfolgen
können. Ägypten und Mesopotamien sind die Brennpunkte der frühgeschicht
lichen Hochkulturen der Menschheit, über deren Ursprung noch ziemliches
Dunkel liegt. Nach dem heutigen Stande der Erkenntnis reichen die geschicht
lich sicher greifbaren Daten im Niltal weiter zurück als im Euphrat- und
Tigrisgebiet, daraus aber ein höheres Alter der ägyptischen Kulturen ableiten
zu wollen, schiene mir jedoch verfrüht. Eignes aber können wir heute schon
mit ziemlicher Sicherheit sagen: Beide Gebiete treten in die Geschichte bereits
mit der Kenntnis der Metallverarbeitung ein. Das reine Neolithikum gehört
in Ägypten und Mesopotamien der Vorgeschichte an, die geschichtliche Zeit
dieser Länder kennt neben den Steingeräten auch bereits solche aus Kupfer.
Daß Ägypten und Palästina schon in der älteren Steinzeit besiedelt
waren, lassen die Funde erkennen, die Chelles-, Acheul- und Moustierformen
aufweisen. Die Altersbestimmung dieser Funde, die meist in Freilandstationen
gemacht wurden, ist zum Teil noch sehr umstritten. Einen halbwegs sicheren
Anhaltspunkt bietet die sogenannte Qurnaterrasse bei Theben, in der sich
Artefakte von Prächelleen, Chelleen, Acheuleen und Mousterien fanden.
Blanckenhorn 1 , der die Entstehung dieser Schotterterrasse in das sogenannte
„Kleine Pluvial“ versetzt, das der Würmperiode gleichzeitig gewesen sein
soll, verlegt die Entstehung der Artefakte in diese Zeit, was gegenüber Europa
verhältnismäßig spät wäre. Nun ist diese Altersbestimmung durchaus nicht
einwandfrei. Denn die Stücke liegen, wie Blanckenhorn selbst betont, in dem
Konglomerate auf sekundärer Lagerstätte, können daher in ihrer primären
Lagerung viel älter gewesen sein und aus verschiedenen Zeitepochen gestammt
haben. Also von einer spätglazialen Chelles-Mousterien-Kultur zu sprechen,
wie das Blanckenhorn tut, liegt kein Grund vor. Die Qurnaterrassen lehren
1 „Das Land der Bibel“, Bd. III, Heft 5ff.
Anthropos XVI—XVII. 1921—1922.
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