Beiträge zur Kostümkunde des Kaukasus.
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Beiträge zur Kostümkunde des Kaukasus.
Von Hedwig v. Drachenfels.
Während meiner mehrjährigen Tätigkeit am Kaukasischen Museum in
Tiflis habe ich mich neben anderen Arbeiten viel mit den Kostümen der zahl
reichen, im Kaukasus lebenden Völker befaßt und habe einen großen Teil der
reichhaltigen Sammlung nicht nur für ein geplantes Kostümwerk gezeichnet,
sondern habe auch jedes Stück ganz genau gemessen und davon Schnitte in
zehnfach verkleinertem Maßstabe angefertigt. Dabei sind mir einige Einzel
heiten aufgefallen, die vielleicht von größerer Tragweite sind, als man bei so
einfachen Dingen wie Gewandschnitten suchen würde.
Die Lösung der Aufgabe, den menschlichen Körper, Rumpf, Arme und
Beine, mit dem in^der gemäßigten Zone üblichen System von „Röhren“ aus
Stoff zu umkleiden, ohne ihn zugleich der Bewegungsmöglichkeit zu berauben,
scheint gar nicht so einfach gewesen zu sein. Die europäische Schneider
kunst hat gerundete Schnitte erfunden, die allen Anforderungen entsprechen,
die kaukasischen Völker kennen, bis auf wenige Ausnahmen, aber nur den
geradlinigen Schnitt, wodurch das Problem für sie recht schwierig wird. Die
Ansatzstellen für die hauptsächlichsten Körperbewegungen sind Schulter- und
Hüftgelenk. Daher hat bei den Kleidern die Verbindung zwischen Ärmel und
Rumpfteil einerseits und der beiden Hosenbeine untereinander anderseits, also
die Achsel und der Schritt, ihren Verfertigern scheinbar das meiste Kopf
zerbrechen verursacht. Die technischen Schwierigkeiten, die hier verborgen
liegen, haben nun die verschiedensten Lösungen erzwungen, die so charak
teristisch sind, daß man auf den ersten Blick ein turkmenisches Hemd von
einem swanischen, ein tatarisches von einem armenischen oder aissorischen
unterscheiden kann, auch wenn man weder Stoff noch Ausschmückung ansieht,
sondern nur die Schnitte vergleicht. Ebenso ist es mit den Hosen. Eine jesidische
und eine tatarische Weiberhose weichen ebenso stark von einander ab, wie
eine chewsurische Männerhose von einer adsharischen. Die ganze Art, wie der
Stoff gehandhabt, gefaltet und geschnitten wird, ist eine grundverschiedene.
Bemerken möchte ich hierbei, daß sich die vorliegende Arbeit aus
schließlich auf Hemden und Hosen bezieht. Die Oberkleider, die an sich viel
reizvoller, schöner und, was die Ornamentik anbetrifft, auch viel interessanter
sind, habe ich nicht berücksichtigen können, weil man bei ihnen nie sicher
ist, ob sie auch wirklich innerhalb des eigenen Volksstammes angefertigt
worden sind. Oft geschieht es, daß die Anfertigung der schönen wollenen
und seidenen Oberkleider einem Schneider im nächsten Orte anvertraut wird.
Da müßte man zuerst wissen, ob der Schneider, der wahrscheinlich einem
anderen Volksstamme angehört, nicht zweier Völker Eigentümlichkeiten in
einem Kleidungsstücke vermischt hat. Von den Kurden weiß man es z. B.,
daß sie ihre schönen gestickten Gewänder von Armeniern anfertigen lassen.
Daher ist auch die Stickerei auf den kurdischen Männerjacken und den ar
menischen Weiberschürzen genau die gleiche, bis auf eine kleine Vogelfigur,
die die Armenier für sich reserviert haben und nie einem Kurden aufs Ge
wand nähen. Ferner unterliegen die Oberkleider einer, wenn auch langsam