Musikwissenschaft und Kulturkreislehie.
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Komplex von Qualitäten, die der Begriff der „Vortragsweise um
schließt. Es handelt sich hier einmal um mannigfache qualitative Züge der
Klangfärbung, die ihrerseits wieder tief in das physiologische Gebiet hinüber
reichen und zum beträchtlichen Teil geradezu von psychophysischen Gegeben
heiten, wie dem Körperbau und mehr aber noch von den besonderen Haltungs
eigentümlichkeiten und Spannungszuständen des Leibes abhängen. Aber es ist
nicht nur die Klangfarbe im engeren Sinne, die hier in Betracht kommt, sondern
daneben sind auch mancherlei qualitative Besonderheiten des rhythmischen
Flusses, der Artikulation und Phrasierung, der Bindung und Trennung der
Töne von Bedeutung. Oft kann man bemerken, daß gerade diese qualitativen
Eigenarten, diese Modalitäten der musikalischen Ausführung aufschluß
reicher sind als die grobstofflichen Züge des Tonvorrats, des formalen Auf-
baus usw.
Aus dieser phänomenologischen Vielschichtigkeit des Tonstoffes, die hier
nur ganz flüchtig zu skizzieren war, entspringt fraglos reicher Sondergewinn
für die musikethnologische Erkenntnis, zum anderen aber liegen gerade hier
außerordentliche Schwierigkeiten in methodischer Hinsicht verborgen. Denn
die verschiedenen Schichten musikalischer Gestaltung und musikalischen Sinn
gehaltes sind seltsamerweise nicht durch ein eindeutiges Gesetz miteinander
verknüpft. Hunderte von Erfahrungen zeigen uns immer wieder, daß musika
lische Kulturgüter sozusagen als fertiggeprägte Gebilde, als tönende „Arte
fakte“, ein Sonderdasein relativ unabhängig von ihren ursprünglichen Träger
völkern zu führen vermögen. Auf der anderen Seite aber ist es ebenso unver
kennbar, daß die feineren gestalthaften Züge und die qualitativen Besonder
heiten des Vortrages enger an ihre jeweils tragende psychophysische Grund
lage gebunden sind. So lassen sich manche Stilgruppen (so etwa Mutterrechts
stile bei süd- und mittelamerikanischen Indianern) eindeutig auf Grund des
Tonvorrates abgrenzen, wohingegen die Vortragsweise keine sehr deutlichen
Aufschlüsse verspricht. Aber auch der umgekehrte Fall ist durchaus aufzeig-
har. Als Musterbeispiel wäre etwa das Melos und der musikalische Formen
schatz der meisten Semang-Stämme zu nennen. Wir müssen annehmen, daß
die Musik der Semang in hohem Grade durch übernommene Formen der
primitivmalaiischen (austronesischen) Kultur überschichtet wurde. Das spe
zifisch Pygmäenhafte dieser Musik tritt uns hingegen mit eindrucksvoller
Deutlichkeit in der Klangbildung und in der Agilität der Vortragsweise
entgegen.
Augenscheinlich lassen sich diese Erfahrungen in methodologischer Hin
sicht dahin zusammenfassen, daß die qualitativen Besonderheiten in der Regel
Hinweise auf ursprünglichere Substrate bedeuten, während die mehr sub
stanziellen und ein Teil der gestaltmäßigen Züge wohl als frei verfügbares,
übertragbares Kulturgut anzusprechen wären. Noch heute können wir in
unserer allernächsten Umgebung, vor allem im ost- und südosteuropäischen
Bereiche beobachten, wie beim Volksliedaustausch der melodische Umriß in der
Regel gewahrt bleibt, wohingegen das, was sozusagen „zwischen den Tönen
liegt, das, was sie als dynamische Unterströmung trägt, stets zum Ausgangs
punkt des Gestaltwandels wird.