Musikwissenschaft und Kulturkreislehre.
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Das „Konsonanzprinzip“ herrscht hier, und zwar in einer umfassenderen
Bedeutung als der ursprünglich von tonpsychologischer Seite geprägte Begriff
es ahnen läßt. Hier liegt auch eine von den wesensverschiedenen Wurzeln der
Mehrstimmigkeit. Die außerordentlich klanggesättigte, harmonikal
gebundene Mehrstimmigkeit der nördlichen und mittleren Salomonen, Neu-
kaledoniens und mancher Gebiete Neuguineas, Borneos hängt fraglos mit der
musikalischen Raumauffassung und mit dem Prinzip der Tonverwandtschaft
zusammen, das in den höheren Mutterrechtskulturen zur Ausprägung gelangt.
Auch im Kaukasus, in der alten Mittelmeerwelt und in Westafrika lassen sich
Spuren dieser alten harmonikalen Auffassung nachweisen. In Amerika hin
gegen zeigt nur die musikalische Hinterlassenschaft der Inka-Kulturen Ein
schläge solcher Mehrstimmigkeit (Panpfeifenmusik). Im übrigen möchte man
hier von einer ziemlich weitgehenden Desintegrierung des Mutterrechtsstils
sprechen.
Vorgeführte Musikbeispiele 0 von den nördlichen Salomonen (Panone), Neu
guinea (Sepik) und Borneo veranschaulichen Tetratonik, Dreiklangsmelos, Tri-
tonuspentatonik sowie das eigentümlich unaktive, besinnliche Klangideal, den
„schwimmenden“ Klang, die „idiopathische“ Vortragsweise und das harmonikale
Sfumato der mutterrechtlichen Musik.
Wenn ich nun zum Kreise der höheren vaterrechtlichen Kul
turen übergehe, so erscheint es mir zweckmäßig, ein allgemein gehaltenes um-
rißhaftes Bild voranzuschicken. In diesem Bereiche treten uns sogleich eine
ganze Reihe von klanglichen und dynamischen Einzelzügen entgegen, deren
männliche Sinnbetonung sich unschwer erkennen läßt. Ich möchte sie stich
wortartig aufzählen, und zwar zunächst vom Klangräumlichen ausgehend.
1. Weitbewegtheit, großer Umfang.
2. Einspuriger Abstieg von der Höhe nach der Tiefe.
3. Tonale Exzentrizität (allerdings in sehr verschiedener Abschattierung).
4. Keine spezifische Leiterin 1 düng; Vorrang des Bewegungsgefühls, des
dynamischen Ausgriffs vor der substanziellen Verfestigung.
5. Das Tetrachord ist Strukturträger, wirkt gerüstbildend.
6. Vorrang des Distanzprinzips vor der Tonverwandtschaft.
7 - Oratorische Gestaltung. (Die Sprache wirkt gerüstbildend und artiku
lierend.)
In rhythmischer Hinsicht zeigt sich das Grundprinzip der Reihung
(Addition kleiner Elementargestalten) und (vielfach) das Moment der soge
nannten „instantanen Rhythmik“, des zuckenden Akzents, dynamisch ist ein
„naturalistisches“ Prinzip der Tonstärkenabstufung unverkennbar. Natura
lismus herrscht auch in der Bevorzugung naturimitativer Vorwurfe (Nach
ahmung von Tierstimmen z. B.).
Soviel als allgemeine Charakteristik. Eine Differenzierung läßt sich hier
leichter durchführen als zuvor im mutterrechtlichen Kreise. Jaap Kunst spricht
von einem „tiled-type“ neuguineischer und australischer Musik und v. Horn-
6 Sämtliche Walzen aus dem Bestand des Berliner Phonogramm-Archivs.