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Werter Danckert,
durch eine mehr „gemeinindianisch“ anmutende Vortragsweise gekennzeichnet,
obwohl das reine Melodiebild ein ähnliches ist wie bei den kleinwüchsigen Nach
barstämmen: wiederum enge Melodik!
Diese geringtonige Art der Melodik bildet nun offenkundig eine
der ältesten Stilschichten in der arktisch-amerikanischen
Altkultur. Wir finden sie häufig zusammen vorkommend mit einer sinnähm
liehen, aber wohl späteren Entwicklungsstufe des zentrischen Melos, für die
ich den Begriff des „mittelweiten Überhöhungsmelos“ Vor
schläge. Beide Formen fanden sich bisher bei den Tehuelche, einigen Chaco-
Stämmen, bei den Ges-Völkern und Bororö, unterschichtig bei den Uitoto, Tule
(Panama), Navaho (Neumexiko, Arizona) und bei einer großen Gruppe von
Stämmen der nordamerikanischen Westküste, insbesondere bei den Yuma, Süd-,
Zentral- und Nordkaliforniern, bei mehreren Selisch-Stämmen und schließlich
als Grundlage des Eskimo-Stils. Interessanterweise zeigte sich die enge Form
in besonders reiner Ausprägung bei den Rentier-Eskimo westlich der
Hudsonbai, also in dem Gebiet, das neuerdings als die Urheimat der Eskimo
angesprochen wurde. Die Engmelodik greift schließlich hinüber in das nord-
eurasische Gebiet, wo insbesondere Samojeden und finnische Stämme als ihre
ursprünglichen Träger zu gelten haben. Zu dein Begriff des „mittelweiten
Überhöhungsmelos“ ist noch nachzutragen, daß der Umfang durchschnittlich
etwa hexachordal, manchmal auch enger oder weiter zu denken ist. Ein fester
Raumschwerpunkt ist vorhanden. In den primitiven Formen ist nur eine
Strukturquarte charakteristisch. Im Gegensatz zum gemeinindianischen
Treppenmelos finden wir zahlreiche Partialüberhöhungen, oft auch eine aus
gesprochene Übergipfelung in der Mitte des Gesamtablaufs, und fast immer
eine mitteltönige Finalis, Klang und Vortrag sind zunächst negativ als „nicht
indianisch“ zu charakterisieren; eine positive Gemeinsamkeit scheint ein glei
tender Bewegungsduktus, der sich auch in der Artikulation als „Glissandostil“
widerspiegelt, zu bilden.
Nur ganz spurenhaft — in Gestalt weniger Notierungen von Howitt’s
Mitarbeiter Torrance — wird uns von dem Musikstil der südostaustra-
lisch-tasmanischen Altkultur Kunde. Leider fehlen die in klang
qualitativer Hinsicht unersetzlichen Schallbilder. Was sich aus der bloßen
Notierung ablesen läßt, genügt immerhin, um das Vorhandensein eines relativ
selbständigen Altstils zu erschließen, der zwar nicht zentrierte, periheletische,
sondern absteigende Bewegungsform hat, ohne jedoch die tonräumliche Weit
bewegtheit und die exzessive Dynamik der gruppentotemistischen strains zu
erreichen. Relative Geringtonigkeit und reperkussale Isotonie bedeuten eine
stilistische Beziehung zum arktisch-amerikanischen Kreis 9 , wogegen die „ver
tikalen“ Bewegungselemente an den totemisiischen Komplex zum mindesten
anklingen. Wo der eigentliche Schwerpunkt dieses Stilbezirkes liegt, läßt sich
bedauerlicherweise nicht mit Sicherheit ausmachen.
9 Wie schon v. Hornbostel in seiner posthum erschienenen Feuerlandstudie
(Fuegian Songs; American Anthropologist, New Series, Vol. 38, No. 3, Part 1, July/Septr.
1936, S. 33) erkannte. Doch interpretiert v. Hornbostel die ToRRANCE’schen Beispiele
wohl zu einseitig als „engmelodische“ Dokumente.