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Bibliographie.
lieh ungemein interessanten Fall einer nach Form und Gehalt durchaus eigenartigen, aus.
der russischen Seelenhaltung und dem Geist der russischen Kulturentwicklung bedingten
reichsten Volksdichtungsart. Sie eröffnet auch der Völkerkunde und vergleichenden
Kulturforschung eine Fundgrube wertvollen Materials und wesentliche Aufschlüsse. Die
Byline als spezifisch großrussisches volkstümliches Heldenlied (weder Klein- noch Weiß
russen kennen sie) war in früherer Zeit über den ganzen großrussischen Siedlungsraum
vom Terek bis zum Nördlichen Eismeer, von Nowgorod über Sibirien bis Jakutsk ver
breitet. Heute sind nur mehr die Bauern und Fischer des entlegensten russischen Nordens
die letzten Bewahrer dieser Tradition mündlich überlieferter epischer Dichtung, deren
Uranfänge noch im Kiewer Rußland liegen, die in den späteren, mittel- und nordostrussi
schen Zentren Nowgorod und Moskau ihre endgültige Prägung und im 16. und 17. Jahr
hundert ihre Hochblüte erlebte. Also ein letztes Stück mittelalterlich nationalrussischer
Volkskunst, welche durch die seit dem 17. Jahrhundert einsetzende Europäisierung Ruß
lands immer weiter an die Peripherie zurückwich und sich nur dort erhalten konnte, wo
weltfern und unberührt von neuzeitlichen geistigen Strömungen altrussisch-mittelalter
licher Geist unter den Bauern der Gouvernements Olonec und Archangelsk, vor allem
unter den hieher geflüchteten Altgläubigen bis heute weiterlebte. Durch die in unseren
Tagen auch hier vordringende Rationalisierung des Lebens, besonders mit der Verbrei
tung der Kunst des Lesens und Schreibens stirbt die Kunst des Bylinensingens aus.
Glücklicherweise hat die Erforschung dieser Erscheinung schon zur Zeit des roman
tischen Interesses für Volkskunst eingesetzt. Seit Rybnikov, ihrem eigentlichen Entdecker,
Hilferding, Vs. Miller bis zu den Brüdern B. und J. Sokolov ist es gelungen, ein fast
unübersehbares Material an alten Liedern, vornehmlich im Norden und in Sibirien, zu
sammeln, das uns über die formale und inhaltliche Struktur dieser Gattung, ihre Be^
handlung durch die Sänger, ihre Wandlung im letzten Jahrhundert ein klares Bild ver
mittelt. Da jedoch unsere Kenntnis von Bylinentexten über die Mitte des 18. Jahrhunderts
nicht wesentlich zurückgeht, vermag man ihre frühere Geschichte, Zeit und Ort ihres
Ursprungs, Perioden ihrer Blüte usw. nur aus Thematik, Fabeln und Motiven der uns vor
liegenden Textbestände zu erschließen.
In der westlichen Literatur ist der Byline streng genommen nichts an die Seite
zu stellen. Trautmann umschreibt die Byline als liedhafte Erzählung, welche die Be
gebenheiten so darstellt, daß im Zuhörer die zweifellose Illusion eines historisch nationalen
Geschehens entsteht, das an plastisch herausgestellte, als repräsentativ russisch erlebte
Helden gebunden erscheint. Dabei ist das russische Volksepos eine alles empirisch Mög
liche weit hinter sich lassende Phantasiekunst von äußerst geringer historischer Sub
stanz. Wesentlich für ihre volkstümliche Überlieferung bis heute war der mittelalterliche
magische Glaube an ihre geschichtliche Tatsächlichkeit, an ihre gewissermaßen zu
idealer Bedeutung erhobene, als feierlich erhaben erlebte nationalgeschichtliche Wirklich
keit. Die Helden der Bylinen aber sind, wenn sie auch vielfach historische Namen tragen,
weder konkret individuelle noch überhaupt empirisch mögliche Persönlichkeiten, etwa
im Sinne eines künstlerischen Realismus, sondern, und dies gilt besonders für die klassi
sche Byline, im Sinne einer immer zum Typischen strebenden idealistischen Kunst nur
Repräsentanten der Formen altrussischen Heldentums; in ihrem Wesen sind dies lebens
wahre Träger der einzelnen Seiten des russischen Nationalcharakters, in ihrem Handeln
Symbole der großen historischen Züge der russischen Vergangenheit. Die große Idee der
älteren russischen Geschichte war der Kampf des russischen „rechtgläubigen“ Christen
tums gegen die „Ungläubigen“, gegen die heidnischen Petschenegen, Polovtzer, Tataren
in der Kiewer Zeit, ebenso wie gegen die Litauer, die „ketzerischen“ Polen und Schweden
im Moskauer Reich. Dies ist auch die Grundidee der klassischen Bylinenhandlung, die
immer wieder in großzügiger dichterischer Fiktion auf die große Epoche Wladimir’s des
Heiligen, des Täufers des russischen Volkes, bezogen erscheint und sich vor dem Hinter
gründe der Fürstenhalle in Kiew und Wladimir’s Tafelrunde abspielt.
Im ersten Teil seines Buches (S. 1—126) gibt Trautmann bei breitester Heran
ziehung der immensen russischen Fachliteratur, durch Verwertung der Ergebnisse der