Germanentum und Wirtschaft.
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„Übervölkerung“ nur dann einen Sinn, wenn man mit einer nur extensiven
Landwirtschaft zu rechnen hat 9 .
In einer so kriegerischen Kultur wie der altgermanischen ist das selbst
verständlich. Davon hat sich auch Tacitus, diesmal entfernt von überkommenen
ethnographischen Klischees, vollkommen überzeugt. Im vierzehnten Kapitel
seiner Germania erzählt er, daß sich die Gefolgschaft, die militärisch-politische
Elite des Stammes, mit dem Landbau nicht beschäftige und es für schlapp
halte: sudore, durch Schweiß, durch wirtschaftliche Arbeit acquirere, quod
possis sanguine parare. Gewiß ist das nicht vom ganzen Stamme gesagt. Aber
waren die Gefolgsleute wirtschaftlich ein Vorbild? Schon Caesar hatte, VI, 22,
gehört, daß eine intensivere Landwirtschaft den Germanen geradezu verboten
sei, und zwar im Interesse der Wehrhaftigkeit: ne assidua consuetudine capti
Studium belli gerendi agricultura commutent. . .
Außer diesen indirekten römischen Zeugnissen gibt es noch andere
Erscheinungen, die in eine ähnliche Richtung deuten wie die verhältnismäßig
späte Entstehung des Privateigentums an Grund und Boden, an der man mit
Karl Half 10 festhalten darf, wenn auch die LAVELEYE-BüCHER’schen An
schauungen vom ursprünglichen Agrarkommunismus der Germanen nicht
mehr aufrechtzuerhalten sind. Die Gewerbe- und Handelsgeschichte liefert in
derselben Richtung feste Stützen. Man wird weder das germanische Gewerbe,
besonders das Kunstgewerbe, noch den germanischen Handel irgendwie unter
schätzen. Nur wird man zweierlei Einschränkungen machen müssen. Gewerb
licher und selbst kunstgewerblicher Aufschwung ist vielfach römisch beein
flußt. Dem Handel kann Germanien Bernstein und gewisse Rohstoffe gegen
Fabrikate bieten. Dieser Handel lag aber vornehmlich in den Händen der
römischen Kaufleute, die schon früh bis ins Baltikum gelangt sind und sich
aus dem freien inneren Germanien auch dann nicht verdrängen ließen, als die
Legionen längst zurückgezogen waren (H. Aubin).
Doch blieb die germanische Wirtschaft auf dieser primitiven Stufe nicht
stehen. Schon während der Völkerwanderungszeit macht sie Fortschritte nach
allen Seiten. Die Folge ist, daß sich die wirtschaftlichen Zustände unter Karl
dem Großen von den altgermanischen zu ihrem Vorteil ganz wesentlich unter
scheiden. Für diese spätere Zeit sind primitive Vorstellungen vielfach fern-
zuhalten, wie Alfons Dopsch trotz gewisser Übertreibungen nachgewiesen
hat. Wenn man aber fragt, woraus sich diese späteren wirtschaftlichen Fort
schritte erklären, so wird man sie mehr auf die Umwelt fortgeschrittener
Kulturen zurückführen als auf eine besonders hohe wirtschaftliche Begabung
der Germanen, weshalb auch Rückschlüsse aus dieser späteren günstigen auf
die frühere ungünstige Periode durchaus unzulässig sind.
Das ursprüngliche Verhältnis des Germanentums zur Wirtschaft ist
locker und jedenfalls nicht annähernd so eng wie das zum Kriege. Für diese
Grundtatsache altgermanischer Wirtschaftsgeschichte ließen sich noch man
9 G. Seeliger, Reallexikon, 4 (1919), S. 212.
10 Zeitschrift der Savigny-Stiftung, Germanistische Abteilung, 49 (1929),
S. 433 ff., S. 478 ff.
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