226
E. Baron Toll: Reise nach den neusibirischen Inseln.
Ich werde auf diese wunderbare Thatsache zum Schlüsse
noch zurückkommen. Jedenfalls hatte schon eine flüchtige
Inaugenscheinnahme dieser Insel die Nothwendigkeit einer
gründlichen Untersuchung derselben erwiesen, und so wurde
deshalb, als Dr. Bunge ebenfalls hier eingetroffen war,
eine Theilung der Expedition beschlossen. Herr Dr. Bunge
erwählte die Ljachow-Jnsel zu seinem speciellen Arbeitsfeld,
da auf ihr sich die reichsten Funde an fossilen Säugethier
knochen erwarten ließen, und mir wurde die Untersuchung
der Insel Kotelny zu Theil.
Am 13. Mai bei nicht untergehender Sonne und doch
bei — 21° d. brachen wir zuerst gemeinsam mit 11 Hunde-
narten weiter nach Norden auf. Nach zweimaliger Rast auf
dem Eise erreichten wir am 16. Mai die Südspitze der Insel
Kotelny unter 74^/zO nördl. Br. Drei Tage darauf nahmen
wir bei einer Flasche Champagner auf 6 Monate von einander
Abschied. Herr Dr. Bunge zog an der Ostküste der Insel
Kotelny nach Norden hinauf, wo er durch Holzmangel und
tiefen Schnee mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen
hatte, um dann zur Ljachow-Jnsel zurückzukehren; ich machte
inzwischen eine Tour über die Insel Fadejew nach Ncu-
sibiricn, von wo ich am 13. Juni noch glücklich über das
Eis nach der Insel Kotelny zurückkehrte.
Hier fand ich die für die Landtouren während der
Uebcrsommcrnng bestimmten, vom Festlande hinüberge
schafften Renthiere vor, aber leider auch die für Herrn
Dr. Bunge bestimmten, die sich nun nicht mehr zurück
senden ließen, wodurch Herrn Dr. Bunge der Aufenthalt
auf der Ljachow-Jnsel bedeutend erschwert wurde.
Nachdem meine Vorräthe zur Mündung des llrassalach,
an der Westküste, circa 10 Meilen nördlich vom Südkap,
hinübcrgeschafft waren, begann der Bau einer für die
Wintermonate nothwendigen Behausung. Dazu ließen sich
sowohl die Reste einer alten Winterhütte, als auch frisches
Treibholz, das hier besonders reichlich vorhanden war, be
nutzen.
Das Treibholz entstammt sicher den großen Strömen
Sibiriens, wahrscheinlich aber am meisten der Lena. Die
größten Treibholzmassen finden sich an der Westküste der In
seln. Unter den zehn von mir gesammelten Holzarten nahmen
Stämme der Kiefer (Pinus silvestris) in der Häufigkeit
des Vorkommens die erste Stelle ein.
Am 6. Juli brach ich mit zwanzig der besten Renthiere,
die aber leider noch nicht ihre vollen Kräfte wiedererlangt
hatten, zunächst quer durch die Insel zur Ostküste auf.
Ich mußte mich hierbei mit Brennholz, und zwar für zehn
Tage versehen. Dieses sowohl, als auch ein leichtes Boot
jakutischer Bauart (eine Vetka), das aus drei rissigen Treib
holzbrettern zusammengefügt war, hatten wir Anfangs auf
Nartcn geladen, dieselben mußten uns aber, als wir im Osten
auf dem die Inseln Kotelny und Fadejew verbindenden
„Sande" angelangt waren, zur Feuerung dienen. Hier
zeigte sich nämlich ein Fehler der Anjou'schen Karte, nach der
wir berechtigt waren, an dem Flusse Dragozenraja schon
Treibholz zu erwarten. Die Wohlthat eines prasselnden
Feuers konnten wir erst zwei Tagemärsche nördlicher wieder
genießen.
Ans der Niederung, die sich an der Ostküstc der Insel
dem Gebirge des Centrums anlehnt, und die in dem die Inseln
Kotelny und Fadejew verbindenden „Sande" endet, erheben
sich einige Hügel, von denen der bedeutendste durch eine
.Sage der Elfenbeinsammler verherrlicht ist.
Sie nennen ihn den Eksekü-Hügel, weil angeblich auf
ihm dcr Eksekü — das ist nach ihrer Ansicht der größte Vogel
der Welt, nämlich der russische Reichsadler — genistet habe.
Er sei von so mächtiger Größe, daß er bei seinem Fluge
die Sonne verfinstert habe. „Mauk, mauk" habe er ge
rufen, als die ersten Besucher der Insel diese betraten, und
als sie dem Rufe nachgehend dem Hügel sich näherten,
haben sie Eierschalen und Federn von fabelhafter Größe
gefunden, der Eksekü selbst aber sei verschwunden und habe
sich nie wieder gezeigt.
Es hängt diese Sage mit der in ganz Sibirien ver
breiteten Ansicht zusammen, daß die nicht selten vor
kommenden Hörner des Rhinoceros Klauen seien (mit denen
sie ja in der That eine entfernte Aehnlichkeit haben), welche
einem ausgestorbenen Riesenvogel angehörten.
Am 10. August erreichten wir, längs der Nordostküste
vorwärts eilend, die Nordspitze der Insel. Dieselbe liegt nach
Anjou unter 760 2' nördl. Br.
Die letzten zwei Wochen waren wir fast beständig in
einem dicken Nebel gehüllt gewesen, um so größer war deshalb
meine Freude, als ich am 13. August, an der Westküste
nach Süden ziehend, ein stetiges Aufhellen bis zur völligen
Klarheit des Horizontes bemerkte. Dadurch war es mir
vergönnt, im Norden, 14 bis 180 Ost, deutlich die Con-
turen von vier Bergen, die nach Osten mit einem flachen
Vorlande verbunden waren, zu sehen.
Damit war nun auch diese Angabe Sannikow's, des
ältesten und hervorragendsten aller Jnfelfahrer, dem wir
die ersten wichtigen Daten über diese Insel verdanken, be
stätigt. Sie sind uns von Hedenström überliefert worden.
Sannikow war es auch, der seinerzeit, in Hedenström's
Auftrag auf der Insel Neusibirien übersommernd, von dort
aus im Norden die von der „Jeannette" entdeckte Bennett-
Jnsel gesehen hatte.
Von hier zogen wir ohne Aufenthalt auf dem kürzesten
Wege nach Süden, dem Urassalach zu, um sobald als mög
lich den Renthieren längere Erholung zu verschaffen, der sie
dringend bedurften. Sie waren ja durch die anstrengenden
Märsche und bei der kärglichen Nahrung, die ihnen be
sonders der Norden der Insel geboten hatte, dermaßen er
mattet, daß wir sie in den letzten Tagen am Halfter
vorwärts schleppen mußten, statt sie als Reitthiere zu be
nutzen. Eines von ihnen waren wir hier zurückzulassen ge
zwungen.
Zum Glück für die Renthiere gab es für sie keine
schweren Lasten mehr zu tragen, da unser Proviant schon
an der Nordostküste bedenklich zur Neige gegangen war. Ich
hatte mich für diese Tour mit Thee, Zucker, Zwieback, Mehl rc.
nur für einen Monat versorgen können, in Bezug auf die
Flcischnahrung aber auf die Reuthierjagd rechnen müssen.
Dank der Gewandheit meiner Jäger, des Tungusen Djergeli
und des Kosaken, hat uns auch die Jagd vollkommen ernährt.
Nur am Balyktach (zu deutsch: Fischsluß) dem größten
Flusse der Insel, boten uns die in demselben gefangenen
Lachse eine willkommene Abwechselung in unserer Kost. Es
ist dieser Lachs, der auch hier, wie am Ochotskischcn Meere
unter dem Namen Keta bekannt ist, ein Rothlachs, welcher
dem Salmo lagocephalus sehr nahe steht oder identisch
mit ihm ist. Mit diesem zusammen fingen wir auch
einen kleinen Fisch für unsere Tafel, den die Jakuten Uekü
nennen (eine Corregrensart).
Nach 43tägiger Abwesenheit traf ich am 18. August
wieder am Urassalach ein, und es überkam mich ein fast
heimathliches Gefühl, als ich die bekannten Plätze in der
Nähe der „Winterhütte" wieder erblickte. Hier konnten
wir uns wieder den entbehrten Genüssen voll hingeben, und
sind uns wohl allen die ersten an der Quelle unserer Vor
räthe verbrachten Tage in schöner Erinnerung geblieben.
In meiner Abwesenheit war von dem zu Holzarbeiten
geworbenen Jakuten Nikta und dem Tungusen Owanoje
unser Haus wohnlich eingerichtet worden, und ich bezog
dasselbe nun zunächst nur für einige Tage.