206
B ii ch e r s ch a u.
als ein der menschlichen Seele verwandter Geist, der jedoch
stärker und mächtiger ist, als eine menschliche Seele. Der Berg
ist ein Dämon oder beherbergt einen Dämon, der auf der
Spitze oder im Innern des Berges wohnt und dementsprechend
einen gewissen Teil desselben, mit allem, was sich daran oder
daraus befindet, als sein Eigentum in Anspruch nimmt und vor
sremdeu Angriffen schützt. Daher dürfen bestimmte Berge gar
nicht oder nur unter bestimmten Zeremonien bestiegen werden.
Man darf auf denselben nicht ausspucken oder andre Hand
lungen verrichten. Wer Kräuter sammeln oder Steine holen
will, hat den Berggeist zu entschädigen. Auf hohen Bergspitzen,
beim Überschreiten von Pässen, beim Umschiffen steiler Vor
gebirge darf nicht laut gesprochen werden, um die bösen oder
guten Berggeister, welche daselbst hausen, nicht zn erzürnen.
Eine andre Ehrenbezeugung für dieselben ist die Errichtung von
künstlichen Steiuhügeln (Obos). Die Berggeister 'sind teils
guter, teils böser Art. Sie verursachen schreckliche Stürme,
Erdfälle, Lawinenstürze, Erdbeben, vulkanische Ausbrüche, giftige
Gasausströmungen. Sie sammeln aber auch die Wolken zu
wohlthätigem Regen. Alan verdankt den Berggeistern heilsame
Pflanzen; sie sind die Eltern der Flüsse und besitzen viele kost
bare Dinge. Zur Erlangung dieser Gaben, zur Abhaltung der
schädlichen Einflüsse bedarf es fortgesetzter Opfer, welche sich
nicht selten zn Menschenopfern steigern können. Die Einheit
der Natur bei aller Mannigfaltigkeit der Erscheinungen, die
Wechselwirkung der Naturkräfte drückt die animistisehe An
schauung durch die besondere Einerleiheit einer ungezählten
Geisterschaar, durch die unbestimmte Abgrenzung der dämonischen
Individualitäten, sowie ihres Machtbereichs, durch ständig
wiederkehrende Vergesellschaftung verschiedener Geisterkategorieen
aus. Demgemäß bietet die Bergverehrung zahlreiche Berüh
rungspunkte mit den übrigen Naturkulten, mit der Verehrung
von Steinen, Pflanzen, Quellen, Flüssen. Beispiele hierfür
sind die Verehrung von Felsblöcken, Stromschnellen und Wasser
fällen, die Regenbeschwöruug auf Bergen, die heiligen Haine
auf Bergen.
Die zweite, kosmische Vorstellungsweise geht von dem
Verhältnisse unsrer Erdoberfläche zum Himmel aus. Die Berge
tragen den Himmel, sie bilden eine natürliche Brücke zwischen
Himmel und Erde. Das Firmament wird als ein Felseil oder
Berg, als eine aus Erz, Stahl, Kristall, Glas bestehende feste
Masse vorgestellt, welche »ach der Hesiodischen Kosmogonie aus
der Erde hervorgegangen ist. So bildet das Himmelsgewölbe
einfach die Fortsetzung der Berge. Diese letzteren empfangen
zunächst die wohlthätigen Äußerungen der Himmelsgötter und
übermitteln dieselben weiter an die übrige Erde. Die an den
Berggipfeln hervortretenden Lichterscheinungen, das wechsclvolle
Spiel der Wolken an den Höhen bezeugen gleichsam das innige
Verhältnis der Berge zum Himmel. Dieser überirdische Charakter
wird durch die Schwierigkeit der Annäherung noch verstärkt.
Als Symbol der Unendlichkeit und Ewigkeit, als bevorzugte
Manifestationspunkte der das organische Leben beherrschenden
Kräfte werden die Berge zum Ausgangspunkt einer Weltan
schauung, welche die unendliche Mannigfaltigkeit des Kosmos
unter dem Bilde eines Himmel und Erde umfassenden Berges
(Weltenberg, Götterberg) versinnlicht. Diese kosmische Ausfassung
der Berge spielt unstreitig in den höheren Kulturstadien eine
größere Rolle als die Berggeister. Sie bildet einen wichtigen
Bestandteil der nationalen Mythvlogieen und Kosmogonieen und
giebt den Anlaß zu zahlreichen späteren Lokalisierungen von
Götterbergcn. Die Wandelbarkeit dieser Vorstellungen ist fast
unbegrenzt. Sie führt bei den Chinesen auf ein rein ethisches
und mystisches Gebiet, in andern Fällen wenigstens zu einer
Verflüchtigung des physischen Charakters und zu einer fort
schreitenden Verhimmelung der Götterberge. In der Ilias
bildet die höchste Spitze des irdischen Olynip den Wohnsitz der
Hauptgötter.
Untersucht man die Verbreitung der kosmischen Bergver-
ehrung und deren Ableger bei den Kulturvölkern, so findet man vor
allem eine ethnographisch gewiß bedeutsame Lücke oder wenigstens
eine sehr späte Form derselben bei den italienischen Völkern.
Dagegen besitzen alle asiatischen Kulturzentren, denen sich Griechen
land anschließt, einen großen Götterberg schon in weit älteren
Epochen ihrer Entwickelung. Die mächtigen Einflüsse des
Orients zeigensich auch hier und werden von Andrian vielfach
nachgewiesen. Übrigens ist die Übertragung von Volk zu Volk
und deren nachträgliche Ummodelung noch in vielen Füllen fcst-
gestellt. So sind die indischen Götterberge mit den daran
haftenden religiösen und kosmischen Vorstellungen in mannig
fachster Verarbeitung über ganz Nord- und Ostasien gewandert.
Der so mannigfaltig ausgebildete Höhenkultus der Chinesen,
dessen Umrisse bis jetzt kaum bekannt sind, beruht nur zum Teil
auf bodenständigem, ursprünglichem Animismus und auf bud
dhistischen, meist leicht erkennbaren Einflüssen.
Dieses sind nur kurze Andeutungen über den Inhalt und
die Ergebnisse des Andrianschen Werkes, sie beweisen aber die
wichtige Rolle, welche die Berge in dein Geistesleben der Völker
Asiens und Europas gespielt haben und noch spielen. Es
giebt kaum ein hervorragendes Gebirge, welches nicht unter
irgend einer Form Gegenstand einer religiösen Verehrung ge
wesen wäre.
Heinrich Kiepert, Spezialkarte vom westlichen Klein
asien in 1:250000. Zweite Lieferung. Berlin, D. Reimer,
1890.
Wenn ein Mann, wie Prof. Kiepert, eine neue Arbeit über
den Orient veröffentlicht, können wir nur einfach referieren,
denn zum Kritisieren sind außer ihm wohl nur sehr wenige
berufen. Mit der Bearbeitung dieser bedeutenden und wert
vollen Karte, die nach ihrer Vollendung 15 Folioblätter um
fassen wird, schreitet der Autor rüstig auf dem Wege weiter,
den er schon seit Jahrzehnten betreten: die kleinasiatischen Länder
in möglichster Ausführlichkeit und mit besonderer Berücksichtigung
der antiken Topographie darzustellen. Die Schwierigkeit einer
solchen Arbeit vermag nur der voll zu ermessen, der selbst wenig
bekannte Erdgebiete kartographisch bearbeitet hat. Welch unge
heures und doch so verschiedenwertiges Material wußte Kiepert
hier zusammenzutragen! Von den gut vermessenen, auf den
Seekarten niedergelegten Küsten gehen sichere geodätische Linien
nur so weit, als die Eisenbahn läuft oder für künftige Bahnen
Vorarbeiten ausgeführt sind. Für das Innere muß heute noch
eine nicht allzu umfangreiche Zahl von astronomischen Positions
bestimmungen das Skelett liefern, welches dann durch Benutzung
von etwa vorhandenen Karten, von Reiseberichten, Spezial-
aufnahmen und Jtineraren ausgefüllt und belebt worden ist.
Hierher gehören die Ergebnisse einer großen Zahl von Reisen
den, Deutschen, Franzosen, Russen und Engländern. Besonders
sind hier hervorzuheben Moltke, Kiepert selbst, der schon 1841
in Kleinasien reiste, Wrontschenko, Hamilton, Ainsworth, Smith,
die österreichische Expedition nach Lykien 1882 bis 1883, die
Ausnahmen von Diest im Aufträge des Kaiser!. Archäologischen
Instituts, Möllhausen, Ramsay, Sterret, der für die Konstruktion
viele Tausende Kompaßpeilungen lieferte, Humann und Hirsch
feld. Viele Manuskriptkarten von den türkischen Behörden sowie
von verschiedenen Jndustriegesellschaften standen dem Heraus
geber zur Verfügung, überhaupt eine Fülle bisher unverösfent-,
lichten Materials, über welches in den Begleitworten zur Karte
berichtet wird. Die zweite, fünf Blätter enthaltende Lieferung
ist wegen neuen, früher nicht zugänglichen Materials etwas
verspätet ausgegeben worden. Es sind ihr eine Anzahl Korrek
turen für die früher veröffentlichten ersten fünf Blätter bei
gefügt. Situation und Schrift sind in den Blättern schwarz,
das Terrain in brauner Schummerung ausgeführt, was das
Kartenbild klar und übersichtlich macht. Die Umschreibung der
türkischen und griechischen Namen ist mit Rücksicht auf nicht
deutsche Leser nach der Transskriptionsweise gegeben worden,
welche vor einigen Jahren von einer Kommission der Pariser
Geograph. Gesellschaft vorgeschlagen wurde. Aus griechischen
und türkischen Karten entlehnte unsichere Ortslagen sind in
Haarschrift geschrieben. Wir ersehen aus dem Charakter der
Karte, wieviel im Innern des Landes für Topographie noch
zu thun übrig bleibt, besonders wenn wir die leeren Stellen
oder die einfachen Formen mancher Gebiete vergleichen niit
den detaillierten Angaben an der gut bekannten Küste oder
auf den Inseln des Archipels. Trotz alledem haben wir aber
hier das Beste, was überhaupt über Kleinasien existirt und
sehen mit Freuden den weiteren Arbeiten des gelehrten Autors
entgegen. Hier ist ein Fingerzeig gegeben, wie größere geo
graphische Zeitschriften sich wissenschaftliche Verdienste erwerben
würden, wenn sie in ähnlicher Weise kartographische Zusammcn-
arbeitungcn brächten von Ländern, in denen es an einer topo
graphischen Ausnahme mangelt; die Karten neuer geographischer
Entdeckungen sind ja heute bei weitem nicht mehr so zahlreich,
wie vor einigen Jahrzehnten. A. Scobel.