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Volltext: Globus, 59/60.1891

Bd. LIX. 
Nr. 5. 
Begründet 186 2 
von 
Karl Andres. 
Xi 
r vt cft und 'Nerkclg von 
Herausgegeben 
von 
Richard Andrer. 
Z-riedricH 'Dieweg & Sohn. 
33 T st U U f tfj stj £ j (t Jährlich 2 Bände in 24 Nummern. Durch alle Buchhandlungen und Postanstaltcn 1891 
zum Preise Von 12 Mark sür den Band zu beziehen. * 
Tundren und Steppen im diluvialen Deutschland. 
Seit 1855, massenhafter seit 1873 sind Knochcnrcste 
von Tieren in verhältnismäßig sehr jugendlichen, ost ganz 
oberflächlichen Bodenabsagerungen in unserm Vaterlande 
aufgefunden worden, welche teils auf ein Tundra-, teils aus 
ein Steppenklima des vorgeschichtlichen Deutschlands hin 
weisen, und zwar sür einen Zeitraum, in welchem bereits 
der Mensch hier wohnte; denn neben jenen Tierknochen 
fnnhi't, f><+> r - /1 
Don Alfred Kirchhofs. 
- , kühlfeuchte ¿amia ver Tundra, 
welches wir von den Nordküsten Europas, Asiens und 
Amerikas kennen, wie reimt sich das zusammen mit der 
typischen Trockenheit der Steppen mittlerer Breiten im 
jahreszeitlichen Wechsel kalter Winter und heißer Sommer? 
Wie soll man sich benachbart dem gewaltigen Inlandeis, 
das seine alles Leben vernichtende Decke aus Skandinavien 
über die norddeutsche Niederung breitete, Steppengebiete 
denken? Wo liegt heute eine echte Steppe einem vergletscherten 
Lande hart zur Seite? Könnten wir uns die Kirgisensteppe 
an Grönland grenzen denken, d. h. die den Baumwuchs fast 
gänzlich ausschließende Dürre an einen Raum, der gerade 
durch reichliche Feuchtigkeit gewaltige Gletscher nährt? Und 
ist nicht Tundra so gut wie Steppe aus dem alten Deutsch 
land ausgeschlossen, da uns die ältesten schriftlichen Über 
lieferungen dasselbe als ein Waldland schildern? 
Niemand unter uns war berufener, in diese dunkeln 
Fragen gerade von faunistischcr Seite Licht zu bringen, als 
Professor Alfred Nehring, welcher nicht bloß die ersten 
Masscnentdecknngen echter Steppennagcr im Gipsbruch bei 
Thiede unweit Wolsenbüttel und bei Wcsteregeln im Bode- 
gebict südwestlich von Magdeburg gemacht, sondern fort 
und fort eifrigst und erfolgreich diese Forschungen weiter 
fortgeführt hat, selbst schürfend oder die von andern ge 
lieferten einschlägigen Fundstücke sichtend und wissenschaftlich 
bearbeitend. Sein kürzlich erschienenes Werk „ÜberTundren 
und Steppen der Jetzt- und Vorzeit, mit besonderer 
Berücksichtigung ihrer Fauna" (Berlin 1890) giebt eine 
Globus LIX. Nr. 5. 
vergleichende Darstellung der jetzigen Tundren und Steppen 
einerseits, der auf analoge Landschaftsformen im diluvialen 
Mitteleuropa deutenden Ermittelungen andrerseits. Es 
faßt recht dankenswert alle Hauptergebnisse, die bisher zu 
Tage gefördert wurden über den Gegenstand, aus der arg 
zerstreuten Litteratur (allein schon Nehrings Aufsätze selbst 
beziffern sich auf 60) zusammen, vor allem aber liegt seine 
Bedeutung darin, daß es auf gesicherter geographischer Grund 
lage, nämlich fußend auf den jetztzeitlichen Verhältnissen, 
nachweist, wie ganz Deutschland gewiß niemals Tundra 
oder Steppe oder Waldland gewesen, so wenig es jemals 
ganz unter dem Eismantel diluvialer Vergletscherung be 
graben lag, daß vielmehr die oben berührten scheinbaren 
Widersprüche bei kritischer Prüfung der Fundthalsachen sich 
heben durch ein Neben-, mehr noch ein Nacheinander 
jener Landschaftstypen im Anschluß an die großen Klima- 
schwankungen der Dilnvialepochc und an die Mannigfaltigkeit 
des Bodenbaues Mitteleuropas. 
In der näheren Umgebung der Glctschcrmassen unsrer 
Eiszeit, namentlich also am Rande des großen nordischen In 
landeises und ans dem bei zeitweiligem Rückzüge dcs letzteren 
eisfrei gewordenen, aber noch vielfach von eiskaltem Schmelz 
wasser durchtränkten Boden waren offenbar diejenigen klima 
tischen und Bodenverhältnisse geboten, wie gegenwärtig auf 
der arktischen Tundra. Kein Wunder mithin, daß damals 
Alpenpflanzen, wie die hübsche, der Rosaceenfamilie an- 
gehörige Silberwurz (Dryas octopetala), nachgewiesener 
maßen weit in die norddeutsche Niederung hinaus wuchs 
und zusammen mit der Zwergbirke, sowie mit der strauchigen, 
allein dicht am Boden wachsenden niederen Polarweide 
insbesondere die bescheidene Flora des deutschen Tundra 
bodens zusammensetzen half. Als ganz überzeugenden Hin 
weis auf diluviale Tundra aber müssen wir, wie Nehring 
von jeher behauptet hat, die zahlreich nachgewiesenen deutschen 
Lemmingvorkommnisse jener Zeiten betrachten. Sowohl 
vom Halsband-Lemming (Jlyocl68 torquatus) als vom 
Ob-Lemming (M. obensis) liegen, abgesehen von den Kar-
	        
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