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Wolfgang Steinitz
Der leibeigene Bauer und der Gutsarbeiter fanden sich auch späterhin nicht passiv
mit ihrem Schicksal ab, sie versuchten immer wieder, gegen den mitleidlosen Feind
zu kämpfen, oder hielten wenigstens in ihren Erzählungen und Liedern den Haß
gegen Unterdrückung, die Hoffnung auf ein besseres Leben und die Begeisterung
an mutigen Taten aufrecht.
Damit spielten diese Lieder und Erzählungen eine wichtige Rolle im Leben des
werktätigen Volkes. In revolutionär zugespitzten Situationen erhielt besonders das
Lied eine gewaltige mobilisierende Kraft. Aus der Zeit des Bauernkrieges sind uns
nur drei Lieder der Aufständischen erhalten, zwei davon als Beilagen zu Gerichts
und Folterprotokollen.
Wenn wir den wilden Haß gegen diese Lieder berücksichtigen, der aus den Proto
kollen spricht, so wird uns deutlich, daß das Lied während des Bauernkrieges die
gleiche Rolle spielte wie etwa das Weberlied beim schlesischen Weberaufstand von
1844. Damals wie im 16. Jahrhundert versuchten die Herren um jeden Preis, die
Verfasser der Lieder zu ermitteln und unschädlich zu machen.
GERHART HAUPTMANN hat in den Webern Baumert und Ansorge meisterhaft ge
staltet, wie die Wahrheit des Weberliedes auch die alten besonnenen Weber ergreift:
Der alte Baumert springt auf, hingerissen zu deliranter Raserei: Haut und Hemde. All’s
richtig, ’s is der Armut Haut und Hemde. Hier steh ich, Robert Baumert, Webermeister von
Kaschbach. . . . Ich bin ein braver Mensch gewest mei Lebelang, und nu seht mich an! Was
hab’ ich davon ? Wie seh ich aus ? Was hab’n se aus mir gemacht ? Hier wird der Mensch
langsam gequält. Er reckt seine Arme hin. Dahier, greift amal an, Haut und Knochen. Ihr
Schurken all, ihr Satansbrut!! Er bricht weinend vor verzweifeltem Ingrimm auf seinem Stuhl
zusammen.
Ansorge schleudert den Korb in die Ecke, erhebt sich, am ganzen Leibe zitternd vor Wut,
stammelt hervor: Und das muß anderscher wer’n, sprech ich, jetzt uf der Stelle. Mir leiden’s
ni mehr! Mir leiden’s ni mehr, mag kommen, was will.
Im 3. Akt läßt der Polizei Verwalter durch den Gendarmen den Webern im Wirts
haus mitteilen, daß das Singen des Liedes verboten ist. Da bricht es los.
Garnischt hat a uns zu verbieten! . . . Die Weber erheben sich und ziehen unter dem Gesang
der folgenden Verse Wittig und Bäcker nach.
Der Aufstand beginnt.
Ich habe über die deutsche Volksdichtung gesprochen, habe aber mit HERDER
begonnen und mit HAUPTMANN geendet. Volksdichtung und Kunstdichtung unter
scheiden sich zwar voneinander, sind aber durch keine Kluft voneinander getrennt.
Vielfach gehen Werke aus der einen Dichtung in die andere über, vielfach sind die
gegenseitigen Eihflüsse. Während es für die Literaturwissenschaft selbstverständlich
geworden ist, die gesellschaftliche Bedeutung von Werken wie „Nathan der Weise“,
„Kabale und Liebe”, „Wilhelm Teil“ usw. zu sehen, sind wir gewohnt, in der Volks
dichtung in romantischerWeise nur das Allgemein-Menschliche, Zeitlos-Gültige zu
sehen.
Ich wollte mit meinen Darlegungen Ihnen die Volksdichtung als eine gesellschaft
lich gebundene, sich historisch entwickelnde Kategorie näherbringen und auf die
große Aufgabe, die in der allseitigen Erforschung dieses ausgeprägt demokratischen
Teils unseres Kulturerbes liegt, hinweisen.