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Günther Voigt
Kein Zweifel, die „sozialpolitischen“ Theorien Riehls gehören nurmehr der Wissen
schaftsgeschichte an. Um so intensiver sollte man sich mit jenen zu Unrecht ver
gessenen monographischen Studien des Feldforschers beschäftigen, die, auf einem
weltanschaulich vorurteilsfreieren Boden erwachsen, das in seinem Vortrage von
18 5 8 als selbständige Disziplin proklamierte Fach nach wie vor vom Material und der
Methode her zu befruchten vermögen.
Exkurs zu S. 297, letzte Zeile: „Krieg um den Wald“.
R. gebraucht den Ausdruck nicht nur in Verbindung mit dem Streulaubsammeln. Viel'
mehr durchzieht das Thema „Krieg um den Wald“ das ganze „Feld und Wald“ betitelte
Kapitel von Land und Leute: so bei dem als Wilddieberei und Holzfrevel auftretenden
Selbsthelfertum, kraft dessen die Bauern ihre Nutzungsrechte an dem aus dem Gemein
eigentum der Markgenossen in den Privatbesitz des Gutsherrn übergegangenen Wald e
aufrechtzuerhalten suchen. R. räumt ein: „Der Wald gilt in der deutschen Volksmeinung
für das einzige große Besitztum, welches noch nicht vollkommen ausgeteilt ist“ (S. 47 )*
Da aber die Waldgenossenschaften im Laufe der Zeit „die Stützen eines falschen Sonder-
geistes“ geworden wären (S. 201) und überdies die im Revolutionsjahr angeregte Parzel
lierung des Waldes der Rentabilität widerspräche, indem „nur der Reiche“ mit Erfolg
Waldwirtschaft treiben könnte, so tritt R. für die Erhaltung des Großgrundbesitzes ein
(S. 57). Er behauptet, daß der Wald „die Aristokratie in dem Bilde der Bodenkultur
bezeichne, und beruft sich dafür auf „die alte Zeit“ mit ihrem „richtigen Blick für diesen
aristokratischen Charakter des Waldes, indem sie denselben zum bevorrechteten Tummel
platz fürstlicher Lust erkor“ (S. 46, bzw. 59). Es ist offensichtlich, daß R. mit dieser Argu
mentation gegen die Formel vom „Krieg um den Wald“ Front macht. Er erwähnt G. A-
Bürgers Gedicht „Der Bauer an seinen durchlauchtigsten Tyrannen“ — „diese alte Probe
moderner sozialdemokratischer Poesie“ — und meint, „daß man es, wenn es heute erschiene,
ohne Zweifel als ein kommunistisches beschlagnahmen würde“ (S. 60f.). Nun war BÜRGERS
Gedicht erst 1834 im Hessischen Landboten zitiert worden, und es liegt auf der Hand, daß
R. mit seiner Erinnerung weniger auf den Stürmer und Dränger als auf G. Büchner und
andere zeitgenössische Autoren zielte, die sich den „Krieg um den Wald“ mit deutlicher
Parteinahme für die Bauern zum Thema gewählt hatten. Hier wäre A. v. Droste Hü lS '
hoffs und ihrer 1843 veröffentlichten „Judenbuche“ zu gedenken, dieses „Sittengemäldes
aus dem gebirgigten Westfalen“, in dem die Kriminalaffäre als eine soziologische Folg e
des Kampfes zwischen den „Blaukitteln“ und den Forstbeamten dargestellt ist. Vor aller 0
hat R. selbst das Fahnenwort vom „Krieg um den Wald“ durch Anführungsstriche a ^ s
entlehnten Titel der 1850 erschienenen Erzählung Moritz Hartmanns gekennzeichnet,
des literarischen Vertreters der demokratischen Linken in Österreich. Das böhmisch e
Dorf Duschnik, aus dem er stammte, bildet den Schauplatz der in den ersten Regierung 8 '
jahren Maria Theresias spielenden Historie. Den armen Duschnikern, deren Feld und Wi ese
sich zum größten Teil der Gutsherr angeeignet hatte, blieb nichts übrig als der Wald, 3 ef
allein sie ernährte, indem sie jährlich eine Anzahl Stämme fällten, die sie nach Prag verkaufte 0
und deren Ertrag sie gleichmäßig unter sich verteilten (1. Kap.). Derjenige aber, der de°
„Krieg um den Wald“ entfesselt, ist ein Großbauer, Holzhändler und Kriegsgewinnler ar °
Konflikt der Kaiserin mit Friedrich II. Dieser Mann, der den Wald durch Raubbau dezimiert
droht den Duschnikern die Existenzgrundlage zu entziehen, so daß sie sich offen empör e ° -
Der Unterschied in den sozialpolitischen Anschauungen der oben angeführten Schriftstelk 1
und R.s ist bedeutend. Auch ein Vergleich mit der zeitgenössischen Literatur erweist d lc
reaktionäre Tendenz der Naturgeschichte des Volkes.