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Volltext: Deutsches Jahrbuch für Volkskunde, 9.1963

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Erna Pomeranceva 
gänger und in Erkenntnis des ernsten und verantwortungsvollen Charakters der ihm 
gestellten Aufgabe. Daß ihm die Sammlung der Kinder- und Hausmärchen der 
Brüder Grimm ein Vorbild war, bezeugt ein Brief Afanas’evs an A. Kraevskij, den 
Redakteur der Zeitschrift Otecestvennye zapiski, vom August 1851. Er schlug 
Kraevskij darin vor, in dessen Zeitschrift einige Volksmärchen zu publizieren und 
berief sich darauf, daß „dieser Gegenstand bei weitem nicht ohne Interesse“ sei. 
Der Brief enthält eine Reihe von Mitteilungen, die für die Geschichte der Sammlung 
„Russische Volksmärchen“ von Belang sind. „Die Publikation wird eine wissen 
schaftliche sein“, so schreibt A. N. Afanas’ev, „nach dem Muster der Ausgabe 
der Brüder Grimm (gesperrt v. Verf.), der Text der Märchen wird von den not 
wendigen philologischen und mythologischen Anmerkungen begleitet werden, was 
diesem Material noch größeren Wert verleihen wird; außerdem werden identische 
Märchen mit den deutschen Märchen nach der Ausgabe der Brüder Grimm ver 
glichen und wird auf analoge Stellen der verschiedenen Märchen hingewiesen . . . 
Der Ausgabe möchte ich ein kurzes Vorwort über die Bedeutung der Märchen und 
die Methode ihrer wissenschaftlichen Herausgabe vorausschicken.“ 3 
Die Sammlung der Brüder Grimm fesselte Afanas’ev natürlich nicht nur durch die 
Quantität und Qualität der Texte, sondern auch durch die Methode der Darbietung 
des Materials, durch ihre Kommentare und das tief poetische Vorwort, welches das 
Pathos der Sammel- und Publikationstätigkeit ihrer Verfasser zeigt. Das in dem für 
die Romantiker charakteristischen gehobenen und etwas blumenreichen Stil abge 
faßte Vorwort bringt das Credo der Herausgeber zum Ausdruck, die nach ihren 
eigenen Worten nicht nur bestrebt waren, einen Beitrag zur Geschichte der Poesie 
und Mythologie zu liefern, sondern auch ein Buch zu schaffen, das dank seinem 
wahrhaft poetischen Inhalt erzieherische Bedeutung haben sollte. Dieses Vorwort 
zeigt erneut die Breite der wissenschaftlichen Ansichten der Brüder Grimm. Es hebt 
die Gemeinsamkeiten der Märchen verschiedener Völker hervor und erklärt sie mit 
den allen Völkern gemeinsamen Ideen, die den Märchen zugrunde liegen. Wenn die 
Verfasser von der Eigenwüchsigkeit verwandter Motive bei verschiedenen Völkern 
sprechen, so schließen sie doch gleichzeitig nicht die Möglichkeit der Entlehnung 
einzelner Motive aus. Als einen gemeinsamen, kostbaren Zug der Märchen aller 
Völker betrachten die Brüder Grimm deren mythologische Grundlage, dank der sie 
„niemals bloßes Farbenspiel inhaltloser Phantasie“ sind. 4 
All diese Gedanken müssen Afanas’ev besonders vertraut gewesen sein, der eben 
falls auf die große Bedeutung der Märchen hinzuweisen pflegte und besonders ihre 
sittlichen Momente, ihre poetische Reinheit und kindliche Offenherzigkeit schätzte. 
Nicht ohne Grund schrieb er im Vorwort zu seiner Sammlung, daß „die große Be 
deutung der Volksmärchen als eines reichen Materials für die Geschichte, Philologie 
und Ethnographie längst von den begabtesten der deutschen Gelehrten 
(gesperrt v. Verf.) erkannt und bestätigt wurde.“ Die Formulierung des Ziels sei 
ner Arbeit nimmt Afanas’ev in einer der Grimmschen sehr nahestehenden Konzep 
3 A. N. Afanas’ev: Narodnye russlde skazki. 3. Aufl., Bd. 1, S. XXXIV. 
4 Kinder- und Hausmärchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm. Berlin 1957, S. 769.
	        
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