Erhard Hexelschneider — Leipzig
Fünf unveröffentlichte Briefe von Anton Dietrich
an Jacob Grimm aus den Jahren 1830/31
In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts waren in Deutschland russische
Märchen kaum bekannt. Zwar erwähnte man hier und da ihre Existenz, im allgemei
nen aber begnügte man sich mit den oft ungenauen Nachrichten über das russische
Epos, wie sie von Johann Richter in den Russischen Miszellen (Leipzig 1803/04) und
von Karl Heinrich von Busse in der Sammlung Fürst Wladimir und dessen Tafel
runde. Altrussische Heldensagen (Leipzig 1819) mitgeteilt wurden. 1 Das hing in erster
Linie mit dem noch unbefriedigenden Stand der russischen Märchenforschung zu
sammen. Es fehlte eine wissenschaftliche Sammlung und Sichtung der im Volk
verbreiteten Märchen. Dafür wurde das Feld von den sog. Lubok-Ausgaben bestimmt,
jenen eigenartigen Formen der russischen Massenliteratur (etwa den deutschen flie
genden Blättern vergleichbar), in denen Text und Illustration miteinander verbunden
waren und die seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ein wesentliches Element der Volks
bildung darstellten. Besonders fruchtbar für ihre Verbreitung waren die ersten
dreißig Jahre des 19. Jahrhunderts, als verschiedene Lubki wiederholt nachgedruckt
wurden und acht kleine Märchensammlungen (allerdings ohne Illustrationen) er
schienen. 2 Trotz ihrer Popularität in den unteren Volksschichten verhielt man sich
in den fortschrittlichen Kreisen zu den Lubki negativ, weil sich in ihnen oft ein
starker Einfluß reaktionärer Ideen zeigte. In das Repertoire der Lubki fanden Be
arbeitungen von Bylinen und Märchen, von satirischen Novellen aus dem russischen
Alltagsleben, von westeuropäischen Ritterromanen und Abenteuererzählungen und
von orientalischen Schwänken Aufnahme, die in ihrem Gehalt ein Konglomerat
einander widersprechender Bestandteile bildeten. Aus einigen von ihnen waren aller
dings bei all ihrer äußeren Unansehnlichkeit wichtige Aufschlüsse über Geschmack
und Geist des einfachen Volkes und seiner Traditionen zu gewinnen. Das erklärt,
warum bedeutende russische Schriftsteller, wie A. S. Puskin, V. A. Zukovskij und
andere zu den Lubki als literarischen Vorlagen griffen.
Durch die Lubki drangen auch wichtige Nachrichten über das russische Märchen
nach Deutschland. Der populärste Lubok war die Bearbeitung des internationalen
1 Genauer darüber in meiner Dissertation: Die russische Volksdichtung in Deutsch
land bis 1848/49. Leipzig x 96 3.
2 Vgl. dazu Русские сказки в записях и публикациях первой половины XIX века.
Состав., вступ. статья и комм. Н. В. Новикова (Russische Märchen in Aufzeichnungen
und Publikationen der ersten Hälfte des 19. Jhs. Zusammenstellung, Einleitung und
Kommentar von N. V. Novikov). Moskau—Leningrad 1961, S. 21 ff.
8 Volkskunde