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Briefe von Anton Dietrich an Jacob Grimm
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In Moskau begann sich Dietrich auch den russischen Märchen, wie sie ihm in den
Lubok-Ausgaben zugänglich waren, zuzuwenden. Er näherte sich dem russischen
Folkloristen und hervorragenden Kenner des Lubok, I. M. Snegirev. Mit seiner
Unterstützung begann er, Lubki zu sammeln und zu übersetzen. Ende 1830 kehrte
Dietrich, da die Kur für Batjuskov ergebnislos verlaufen war, nach Deutschland
zurück, besuchte Goethe in Weimar, der sich, wie Dietrich an 2ukovskij berichtete,
noch recht gut an diesen erinnern konnte, 10 und begab sich auch nach Kassel. Hier
bot er Jacob Grimm seine Übersetzungen russischer Märchen zur Nutzung und
eventuellen Veröffentlichung an.
Diese Episode in den Rußlandbeziehungen Grimms ist bisher noch nicht ein
gehender beleuchtet worden, obwohl sie von erheblicher Bedeutung für die Ver
breitung der russischen Volksdichtung in Deutschland in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts ist. Grimm, dessen allgemein-slawistische Studien und dessen Rolle
bei der Popularisierung der serbokroatischen Volkspoesie wiederholt gewürdigt
worden sind, 11 spielte für die Verbreitung der russischen Märchen in Deutschland
eine ähnlich stimulierende Rolle wie Johann Gottfried Herder für die Verbreitung
des russischen Liedes. Während Herder aber keine unmittelbaren Kenntnisse über
das russische Lied besaß und auch trotz aller Befnühungen seiner Gewährsleute keine
Lieder für seine berühmte Volkslied-Sammlung erhalten konnte, 12 lagen die Ver
hältnisse bei Grimm anders. Er muß als der beste Kenner der russischen Märchen
folklore in Deutschland angesehen werden, der nicht nur die wichtigsten deutschen
Übersetzungen, sondern auch die gesamte einschlägige russische Literatur sorgsam
verfolgte.
Kein Wunder also, daß Grimm sofort positiv reagierte und Dietrich in jeder Be
ziehung unterstützte. Unter seiner Aufsicht und durch seine fördernde Hilfe entstand
dann Dietrichs Sammlung, die die erste zusammenfassende Edition russischer Mär
chen in Deutschland war und die bis in die sechziger Jahre hinein (gemeinsam mit
einem zehn Jahre später von dem österreichischen Schriftsteller J. N. Vogl heraus
gegebenen Band) 13 den Kenntnisstand über die russische Märchenwelt bestimmen
sollte. Grimm machte sich zum warmherzigen Fürsprecher Dietrichs, vermittelte
ihm einen Verleger und sicherte mit seiner Autorität das Gelingen der Edition,
indem er Dietrich bei der Auswahl der Übersetzungen beriet und ein instruktives
Vorwort und eine Rezension zu dem fertigen Werk schrieb. 14 Er forderte die Unter
suchung der slawischen Märchen, denn die slawischen Völker seien reich an Kinder
märchen, „deren treue und einfache Auffassung die Geschichte der europäischen
10 Ebda S. 370.
11 Vgl. M. Vasmer: B. Kopitars Briefwechsel mit Jakob Grimm. Bin. 1938 (= Abh. d.
Preuß. Akademie d. Wiss., Jg. 1937, Philos.-hist. Klasse); Ders.: Jakob Grimms slavistische
Beziehungen und Interessen. In: Forschungen und Fortschritte 14(1938), S. 79 — 80;
K. Schulte-Kemminghausen: Grimm und das serbokroatische Volkslied. In: DJbfVk 4
(1958), S. 301 — 326 u. a. m.
12 Von und an Herder. Hg. von H. Düntzer u. F. G. v. Herder. Leipzig 1861, Bd. I, S. 84.
13 J. N. Vogl: Die ältesten Volksmärchen der Russen. Wien 1841.
14 In: J. Grimm: Kleinere Schriften, Bd. V, S. 138 — 139.