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Jacob Grimm und die slawische Volkskunde
Die hundertste Wiederkehr des Todestages Jacob Grimms läßt die Erinnerung
an die Persönlichkeit eines jener genialen Bahnbrecher lebendig werden, die für die
Forschung auf einem umfangreichen Gebiet sichere Grundlagen geschaffen und damit
eigentlich ein neues wissenschaftliches Fach begründet haben. Jacob Grimm, dem
ersten großen Meister der vergleichenden historischen Methode, mit deren Hilfe
er die Entwicklung der Sprachen der germanischen Völker, ihre Mythologie, ihre
Volksdichtung und die alte Literatur in breitem Umfang neu beleuchtete, gebührt
auch in der Geschichte der slawistischen Studien ein hervorragender Platz. Hinter
dem großen Forscher zeichnet sich ein Mensch ab, ein unvergeßlicher Repräsentant
der deutschen Kultur in einer Zeit, in der das goethische Ideal der Weltliteratur be
geisterte Anhänger fand, gerecht und unparteiisch auch gegenüber fremden Kulturen,
besonders den slawischen; neben Herder bleibt Grimm der edelste Slawenfreund.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als Deutschland trotz schwerer politischer und
wirtschaftlicher Katastrophen Weltgeltung erreichte, suchte die junge Generation
die drückende Last der fremden Vorherrschaft durch die Erinnerung an eine große
Vergangenheit und durch den Glauben an die Kraft des einfachen Volkes zu über
winden. Die deutsche Literaturwissenschaft hat die Bestrebungen insbesondere des
Heidelberger Kreises eingehend untersucht, die darauf gerichtet waren, nicht nur
die alte deutsche Literatur kennenzulernen, sondern auch den Quellen der besonderen
Schönheit nachzuspüren, die in der Volksdichtung verborgen ist. Die große Ten
denz der Zeit erfüllten Achim von Arnim und Clemens Brentano mit der Heraus
gabe deutscher Volkslieder (Des Knaben Wunderhorn x 806 —1808) sowie die Brüder
Jacob und Wilhelm Grimm mit der Sammlung deutscher Volksmärchen ( Kinder-
und Hausmärchen, 1812 — 1815). Es ist bekannt, daß vor dem Rußlandfeldzug, als
noch Napoleon über Deutschland herrschte, besonders Wien der Zufluchtsort jener
Deutschen war, die einen geheimen oder offenen Kampf gegen die Vorherrschaft
der Okkupanten führten, Friedrich Schlegel, der kritische Führer der älteren deut
schen Romantik, Clemens Brentano und andere hielten sich damals in Wien auf.
Und Wien bedeutete in mancher Hinsicht auch eine neue Periode im Leben Jacob
Grimms.
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Es ist in der Tat ein symbolisches Zusammentreffen, daß Grimm seine Beziehungen
zu slawischen Gelehrten mit Briefen an Josef Dobrovsky (175 3 —l8z 9) eröffnete, den