Der Märchenstil Jacob Grimms
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legentlich behauptet wird, 154 seinem Bruder einen Vorwurf daraus gemacht, daß er
verschiedene Fassungen des gleichen Märchens miteinander verschmolzen hat. Viel
mehr hat Wilhelm diese Methode von Jacob übernommen. Jacob hat sie schon in den
Urmärchen der Ölenberger Handschrift, also lange vor der Druckfassung, praktiziert,
indem er die bereits aufgezeichneten Fassungen eines Märchens ohne weiteres aus den
Erzählungen anderer Gewährsleute ergänzte, und gleichzeitig den zögernden Bruder
dazu ermahnt, sich auch die ihnen schon bekannten Märchen immer wieder erzählen
zu lassen, um so — aus den einzelnen Erzählungen — das „rechte Detail“ zu ge
winnen. 155 In seinen Briefen an Arnim hat Jacob die theoretische Begründung für
dieses synthetische Verfahren geliefert, 156 und im Vorwort zu den Deutschen Sagen
spricht er sich völlig unbedenklich über derartige Kompilationen aus. 157
So überraschend es also auf den ersten Blick scheinen mag, für Jacob Grimms Auf
fassung von der Redaktion der KHM gelten weder seine strengen Forderungen hin
sichtlich der Aufzeichnung mündlicher Volksüberlieferung durch andere, noch seine
Ablehnung jeder sprachlich-inhaltlichen Bearbeitung, die er in der Diskussion um die
Erneuerung (Übersetzung und Bearbeitung) der germanischen und der altdeutschen
Poesie vorträgt, noch seine Abgrenzungen gegen die Wünsche Clemens Brentanos.
Man kann nicht die Äußerungen, die er zu einem der eben genannten Punkte getan
hat, auf die KHM beziehen, solange sie in Widerspruch zu denjenigen Erklärungen
stehen, die er selbst über die KHM abgegeben hat. Nur durch die Verbindung dieser
—getrennt zu behandelnden — Punkte aber ist die These von Jacob Grimms strenger
Haltung in der Märchenredaktion entstanden. Man hat dabei den wesentlichen
Unterschied zwischen den einzelnen Komplexen — die Auffassung und Behandlung
der sprachlichen Form — verwischt. Es muß daher noch einmal mit Nachdruck ge
sagt werden: dem Wunsch Jacob Grimms nach unbedingter Erhaltung des Ur
sprünglichen oder auch nur des Überlieferten, wie er ihn in den so modern anmuten
den Aufrufen zu volkskundlicher Sammelarbeit und in der Ablehnung jeder sprach
lichen Erneuerung germanisch-altdeutscher Poesie vertritt, steht seine ausdrückliche
Erklärung gegenüber, daß bei der Wiedergabe von Märchen die absolute Bewahrung
der Form (die „mathematische“ Treue) unmöglich sei. Daß der bewußte Verzicht auf
exakte, phonographische Wiedergabe des Gehörten seiner ursprünglichen Auf
fassung entspricht, und nicht etwa als nachträgliches Zugeständnis an praktische
Notwendigkeiten oder an die künstlerischen Absichten Wilhelms angesehen werden
kann, beweist Jacobs Praxis in den handschriftlichen Urmärchen. 158 Die Art dieser
Aufzeichnungen und ihr Vergleich mit literarischen Vorlagen zeigt, daß sie keine
buchstäbliche Wiedergabe der Überlieferung sind. Man hat dies auch niemals be
mit Wahl zu einem einzigen [zu] machen, um nicht zu einerlei zu werden“ (ebda S. 159), ein
Verfahren, das, wie die später veröffentlichten Märchen Brentanos zur Genüge beweisen,
mit demjenigen Wilhelm Grimms nicht im entferntesten zu vergleichen ist.
154 A. Götze S. 68.
155 J. Grimm an W. Grimm (10. Juli 1809) oben Anm. 1, S. 123 als Antwort auf Wil
helms Mitteilung (1. Juli 1809) ebda S. 120.
156 J. Grimm an Arnim (29. Okt. 1812) oben Anm. 9, S. 237.
157 Kl. Sehr. 8, S. 14 (1816).
158 G. Ginschel oben Anm. 7, S. 291 ff.