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Wolfgang Pfeifer
ist es nur diesem Umstand zu verdanken, daß das Wörterbuch überhaupt vollendet
wurde. Hildebrand, Wunderlich, Lexer, Heyne — sie versuchten alle nach bestem
Vermögen im Sinne und im Stile der Grimms fortzuwirken. Aber sie waren zu sehr
selbständige Persönlichkeiten, als daß sie ihre Individualität dem Werk gegenüber
gänzlich hätten aufgeben können. Man muß ihnen gestatten, neue Blickrichtungen
und Forschungsergebnisse aufzunehmen, wenn sie nicht unter dem Gefühl arbeiten
sollten, etwas von vornherein Veraltetes zu liefern. Ihre Änderungen sind aufs
Ganze gesehen geringfügig. Der Zeitpunkt für eine radikale Umgestaltung war 1908
gegeben, als die Berliner Akademie in die Wörterbucharbeit eingriff. Sie verzichtete
darauf, weil sie sah, daß dann zwei Wörterbücher entstehen würden unter einem
Alphabet.
Die Druckeinrichtung ist immer wieder beklagt worden. Anfangs sind es die
„römischen Lettern“, die Orthographie samt ihrer Kleinschreibung, später moniert
man engen Druck und unübersichtliche Anordnung. Jacob wehrt kühl ab: „daß
blöden und verwöhnten äugen der druck zu fein und blaß scheint, thut nichts, sie
müssen sich nur dran gewöhnen“ (an Hirzel, 18 5 2). 82 Selbstverständlich ist das Druck
bild für uns heute, die wir an moderne Drucktechnik gewöhnt sind, alt und unüber
sichtlich. Vor hundert Jahren war es revolutionär, die Kritik beweist es. Hätte man
es unter Verzicht auf Einheitlichkeit im Laufe eines Jahrhunderts — gegebenenfalls
mehrmals — ändern sollen? Gewiß wäre dann dem Nachschlagenden die Benutzung
erleichtert worden, zumal die langen Artikel der späteren Zeit hätten an Übersicht
gewonnen, und der Suchende würde rascher jene Bedeutung eines Wortes finden,
nach der er fragt. Aber das ist es nicht allein. Die äußere Gestalt ist abhängig von der
inneren Gliederung. Und diese hätte dann ebenfalls verändert werden müssen. Das
Wörterbuch gibt keine bloße Aufzählung möglicher Bedeutungsvarianten, sondern
eine historisch und begrifflich gegliederte Entwicklungsgeschichte, deren einzelne
Endpunkte sich jeweils über und aus einer Vielzahl von Zwischenstufen herleiten.
Nicht die Endpunkte sind es, die allein wichtig sind, sondern ebenso die Entwick
lungslinien, die zu ihnen führen. Darum muß man heute noch an das Wörterbuch
herantreten, wie es seine Gründer einst wollten: man muß es lesen, man muß nicht
nur die Artikel der Grimms, sondern auch die Hildebrands, Wunderlichs und die aller
Späteren beinahe ganz lesen, um zu finden, was man sucht. Das ist wahrhaftig ein
mühsames Geschäft. Es ist nur aus der Anlage heraus zu verstehen, die von dem Ge
danken der Einheit des Wortes ausging, von einer Anlage, die — wie wir oben
sahen — von Anfang an die Neigung in sich trug, sich auszuweiten, und schließlich
darin gipfelte, die Einheit über die Mannigfaltigkeit herzustellen. Man weiß, und
auch die letzten Bearbeiter wußten es, daß es heute andere Auffassungen der Wort
forschung gibt.
Auch seine alphabetische Anordnung ist dem Wörterbuch vorgeworfen worden.
Man sähe nach moderner Anschauung den Wortschatz lieber nach etymologischen
oder nach begrifflichen Gesichtspunkten systematisch gegliedert. Jacob Grimm
wußte, daß das Alphabet ein unwissenschaftliches Einteilungsprinzip ist. Er hält
82 ZfdPh, S. 63.