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Wolfgang Pfeifer
Forschergenerationen haben viel hinzugetan. Über Jacobs Angabe zu Blindschleiche
„blinde, giftige schlänge“ könnte man hinwegsehen — es ist einer der harmlosesten
Irrtümer —, wenn es nicht fraglich wäre, ob diese Deutung wirklich auf mangelnde
„Unterrichtungslust“ zurückzuführen ist, ob ihr nicht, wie an anderen Stellen
auch, — zugegeben: im extremen Maße — die strenge Haltung eines Wörterbuch
schreibers zugrundeliegt. Blindschleiche ist ein althochdeutsches hlintsllcho, und dieses
bedeutet sprachlich nun einmal ,blinde Schlange*. Das Wörterbuch hat nicht Defi
nitionen im Stile eines Konversationslexikons zu liefern, sondern sprachliche Er
klärungen.
Sanders rügt, daß dem Wörterbuche Belege aus Börne, Freiligrath, Gutzkow
fehlen; heutige Kritiker vermissen Kafka, Benn, Brecht. Sind darum die Wort
artikel falsch? Es ist belanglos, ob unter mehr als 30000 Quellen Gutzkow, Benn zu
häufig, zu selten oder gar nicht erscheinen. Die Aufgabe des Wörterbuchs ist nicht,
einzelne Schriftsteller zu propagieren, sondern die Sprache eines Jahrtausends zu
interpretieren, mit Hilfe eines riesigen Quellenmaterials aus 1200 Jahren Schrift
lichkeit Wortentwicklungen nachzuzeichnen, wie sie bisher nicht bekannt waren und
nicht bekannt sein konnten. Man faßt die Sprache nicht in ihrer Ganzheit, wenn man
sich nur auf die begnadeten Dichter stützt. Literarisches aus allen Bereichen, aus Ur
kunden, Weistümern und aus niederer Belletristik kann in gleicher Weise bedeutsam
sein. Es gibt Wörter, die nur in fachsprachlichen Aufzeichnungen, und solche, die
nur in großer Dichtung leben. Dem Wörterbuch — horribile dictu — sind sie gleich
wertig. Wer kennt den Reiz und die Mühe, die es macht, aus vergangenen Jahrhunder
ten, aus denen kein Laut mehr zu uns dringt, doch noch an versteckten Stellen die
Spuren gesprochener Umgangssprache zu erhaschen? Dritt- und viertrangige
Schreiberlinge, literarisch und zeitgeschichtlich völlig wertlose Privatbriefe stehen
dieser Sprache nahe. Wilhelm Grimm wußte das: „. . . wie ungeschickt, geschmacklos,
selbst gemein bei vielen der Gebrauch der Sprache ist, sie dennoch für das Material
des Wörterbuchs wichtig werden, weil ... sie die Sprache mit voller Unschuld,
ich will sagen ohne einen Gedanken an Critik, zu Tage brachten; und so ist z. B.
selbst aus den geschmacklosesten Romanen des 17. Jahrhunderts mehr zu gewinnen,
als aus den gebildeten des i8 ten und i9 ten “ (an Savigny, 2. April 1839). 85 Für ein
historisches Wörterbuch ist ein Wort erst dann wertvoll, wenn es Geschichte macht:
„mir scheint . . . eine natürliche empfindung dafür zu reden, dasz der wortsammler
nur in einem gewissen abstand der spräche folge und erst die zeit an den neuen bil-
dungen bewähren lasse, was sie taugen“ (Jacob Grimm, Dt. Grammatik, 1819,
Vorrede, S. 75).
Die Kritik blieb sich stets gleich, von Anfang bis heute. Immer ist sie oberfläch
lich gewesen, von Wurm bis Boehlich. Sie sehen, daß einige Wörter fehlen und daß
einige zuviel sind. Sie sehen nicht die Tausende von Wörtern, die noch nirgends sonst
historisch behandelt sind. Sie rechnen nach, daß manche Artikel zu lang sind, und
sie klagen, daß manches nicht erschöpfend behandelt ist. Sie stolpern über einzelne
Formen der Arbeitsweise und fragen nicht, weshalb sie so werden mußte. Sie
85
Schoof, S. 403.