Väinö Kaukonen — Helsinki
Jacob Grimm und das Kalevala-Epos
Jacob Grimm hat seinen suchenden und scharfen Blick oft auch auf Vergleichs
punkte und Parallelerscheinungen weit außerhalb seiner zentralen Forschungsobjekte
gerichtet. Es ist bekannt genug, daß er sich in hohem Maße mit den alten Denk
mälern der Sprache und Dichtung der nahverwandten skandinavischen Länder ver
traut machte. Minder bekannt ist wohl, daß er sich angesichts der peripheren Aufgabe
und ohne Kenntnis der finnischen Sprache auch in die grammatischen und sprach-
geschichtlichen Fragen sowie in die zu seiner Zeit außerhalb der Grenzen Finnlands
nur wenig bekannte finnische Volksdichtung vertiefte. Der sichtbarste Ausdruck
dafür war seine in der Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 13. März 1845
gehaltene Rede Über das finnische Epos. Er übte damit auf die finnische Kultur- und
Literaturgeschichte eine Wirkung aus, deren Bedeutung erst in den Forschungen der
letzten Jahrzehnte klar geworden ist. Die Voraussetzung dieser weittragenden Wir
kung waren zwei zeitlich in den Schaffensjahren Jacob Grimms zusammentreffende
grundlegende Erscheinungen im Bereich der finnischen Kultur: die finnisch-nationale
Bewegung und das Entstehen des Kalevala-Werkes.
Bei der Trennung Finnlands von der jahrhundertelangen staatlichen Vereinigung
mit Schweden als Folge des schwedisch-russischen Krieges von 1808/09 und bei der
Einverleibung in das russische Kaiserreich als autonomes Großfürstentum war die
finnische Sprache praktisch gesehen ohne Rechte, und die gedruckte finnisch
sprachige Literatur beschränkte sich lediglich auf Übersetzungen der Bibel und ande
rer geistlicher Bücher sowie auf Übersetzungen von Gesetzen und Verordnungen.
Das Ziel der jetzt erwachenden aktiven und zu einem großen Teil auf die deutsche
Romantik sich stützenden nationalen Bewegung war die Anerkennung des Finnischen
als offizielle Sprache neben der schwedischen (und russischen), ihre Entwicklung zu
einer auch den höchsten Bedürfnissen der Bildung entsprechenden Kultursprache
und die Schaffung eines finnischen Schrifttums als Ausdrucksmittel der finnischen
Kultur. Bei der Verwirklichung dieses Programms richtete sich das Augenmerk
gerade auf die Sprache und auf die einzige finnische Literatur, die außerhalb der
schon erwähnten engen Spezialgebiete, wenn auch nur sehr wenig bekannt, vorhanden
war, nämlich auf die als mündliche Volkstradition auftretende Volksdichtung. Diese
Bestrebungen hatten ihre starken Wurzeln in dem schon im vorhergehenden Jahr
hundert von deutscher Seite beeinflußten folkloristischen Bestreben, das allmählich
bis zum Ende der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts zu vielen bedeutenden Aufzeich
nungen und Abhandlungen über die Volksdichtung geführt hatte. Ohne hier auf die