Wilhelm Fraenger — Berlin
Ein Leitwort Jacob Grimms 2ur Auslegung der Lissaboner
„Versuchungen des hg. Antonius“ von Hieronymus Bosch
„Es fragt sich, zu welcher Zeit Hexenbündnisse und Buhlschaften mit dem Teufel
am frühesten in Deutschland erwähnt werden. Ohne Zweifel gab ersten Anlaß dazu
die Verfolgung und Verbreitung der Ketzereien, die seit der Mitte des 13. Jahr
hunderts von Italien und Frankreich her nach Deutschland kam. In welchem Maß
Ketzer schuldig oder unschuldig gewesen seien, die vergrößernde, entstellende Sage
legte ihren Zusammenkünften abgöttische Ausschweifungen zur Last, deren Ver
wandtschaft mit dem Hexenwesen unverkennbar ist. Unter den Ketzern selbst, bei
ihrer Absonderung, Zurückhaltung und dem immer wieder gelingenden Anknüpfen
an neue Jünger und Teilnehmer haben sich uralte Glaubensabweichungen und Bräu
che zäh und hartnäckig fortgepflanzt; ebenso untilgbar erhoben sich wider sie falsche
Anklagen. Man zieh sie der Anbetung eines Tiers oder Tierhaupts, das in den Teufel
überging, der bald als schwarzer Geist, bald als lichter verführerischer Engel, tierisch
am liebsten als Kater oder Kröte sichtbar wurde.“ 1
Der Lissaboner Altar ist die meist kopierte und noch jahrzehntelang nach seinem
Tod in Nachahmungen fortwirkende Schöpfung des Brabanter Malers, die auch im
Urteil unserer Gegenwart als seine kühnste bildnerische Leistung gilt. Carl Justi,
Max J. Friedländer und Charles de Tolnay 2 haben die einzigartige Erscheinung sei
nes magischen Realismus und die spezifisch malerischen Qualitäten der Lissaboner
Altartafeln in vorzüglichen Analysen klargestellt, wogegen deren phantomatische
Inhaltswelt, die den Betrachter ebenso befremdet, wie aufs lebhafteste anreizt, noch
im Dunkel blieb. Ludwig v. Baldass, dessen repräsentatives Tafelwerk den Status
der Erforschung dieser Gipfelleistung Boschs zusammenfaßt, stellt als Befund des
Jahres 1959 fest: „Das Mittelbild der Tafel ist mehrmals interpretiert worden, ohne
daß die Erklärer in verschiedenen Einzelheiten dem wirklich Dargestellten gerecht
geworden sind. Ihr Gegenstand ist daher im Speziellen noch nicht festgelegt“: 3 ein
Urteil, das nicht auf die ungeklärten Einzelheiten einzuschränken, vielmehr auf den
1 Jacob Grimm: Deutsche Mythologie, Göttingen 1844 2 , S. 1018.
2 Carl Justi: Die Werke des Hieronymus Bosch in Spanien. In: Jahrbuch der Preußischen
Kunstsammlungen 10 (Berlin 1889). Wieder abgedruckt in seinen Miszellaneen aus drei
Jahrhunderten spanischen Kunstlebens, 2. Bd. Berlin 1908; Max J. Friedländer: Die Alt
niederländische Malerei, 5. Bd.: Geertgen von Haarlem und Hieronymus Bosch. Berlin
*9 2 7; Charles de Tolnay: Hieronymus Bosch, Bale 1937.
3 Ludwig v. Baldass: Hieronymus Bosch. Wien 1943, 2. Aufl. ebda 1959, S. 47.