Jacob Grimm und die slawische Volkskunde
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Neben Surowiecki interessierte Safarik Ignacy Benedykt- Rakowiecki, der in den
Jahren 1820 — 1822 ein zweiteiliges Werk mit dem Titel Prawda Ruska czyli Prawa
Wielkiego ksiqcia Jaroslawa Wladymirowicza (Die Russkaja Prawda oder das Recht
des Großfürsten Jaroslav Vladimorivic) herausgab und der Textausgabe eine ein
gehende Erläuterung von Sitte und Brauch, Religion, Rechtsauffassung und Sprache
der alten Slawen voranstellte. Sein Streben ging dahin, zu zeigen, daß die Bildung
der alten Slawen nicht auf einer so niedrigen Stufe stand, wie man damals annahm,
daß die Slawen schon vor der Annahme des Christentums eine ausgebildete Sprache,
eine Heldenepik, eine Rechtsordnung, geschriebene Gesetze und natürlich auch schon
eine Schrift gehabt hätten. Rakowiecki druckte in Band II den Text des Falsifikats
Libuschas Gericht (aus der „Grüneberger Handschrift“) ab, den ihm Antonin Jung
mann aus Prag geschickt hatte, und entwarf auf Grund dieser „alttschechischen“
epischen Dichtung das Bild einer Gerichtsverhandlung unter der Regierung der
Fürstin Libuscha. Die Anschauungen Rakowieckis übernahm Safarik in seine „Ge
schichte“, da er in Übereinstimmung mit seinen jüngeren Zeitgenossen selbst ein
weit farbigeres, großartigeres Bild der altslawischen Kultur ersehnte. In dieser Hin
sicht stimmte er nicht mit Josef Dobrovsky überein, der jede Behauptung, für die
es keinen Quellenbeleg gab, scharf ablehnte. 34
Die angeführten polnischen Arbeiten, die von großer Bedeutung für Safäriks
weitere wissenschaftliche Entwicklung waren, gingen aus Quellen hervor, die noch
genauer festzustellen wären (Rousseau, Ossian, Bernardin de Saint-Pierre u. a.). In
mancher Hinsicht erinnern sie an die von Jacob Grimm vertretene Richtung, doch
fehlte ihnen die allseitige linguistische Bildung und das hohe kritische Niveau. Die
jungen Schüler Dobrovskys waren jedoch von den großartigen Bildern des sla
wischen Altertums begeistert, und das Polen der ersten beiden Jahrzehnte des 19.
Jahrhunderts weckte lebhaftes Interesse: Die konstitutionelle Regierung bot die
Möglichkeit der freien Entfaltung, die Warschauer Universität und die gelehrte
Gesellschaft (Towarzystwo) unterstützten die wissenschaftliche Entwicklung, zahl
reiche Zeitschriften legten Zeugnis für ein lebhaftes literarisches Leben ab, mit
einem Wort, Polen war damals für die tschechischen uno die slowakischen Gelehrten
ein Vorbild in ihrem Streben, die heimische Geisteskultur allseitig zu heben.
Nach Beendigung der „Geschichte“ setzte Safarik mit genialer Ausdauer seine
Forschungen auf dem Gebiete von Sprache und Literatur der Südslawen fort, doch
dabei ergänzte er — auch nach Herausgabe der Monographie über die Arbeit Suro-
wieckis — ständig sein umfangreiches Material über die älteste Geschichte und Kul
tur der Slawen. Nachdem er im Jahre 1833 nach Prag übersiedelt war, wandte er sich
gleich einer monumentalen Synthese zu und schuf unter bewundernswerter Anspan
nung aller Kräfte sein Hauptkwerk Slovanske starozitnosti (Slawische Altertümer)
(i 836/37). Es ist nicht Aufgabe dieser Studie, dem Inhalt dieses Werkes eine einge
hende Analyse zu widmen, sondern festzustellen, inwieweit sich Züge der Auf
fassungen Grimms in dem Werk zeigen, das der Geschichte der slawischen Völker
von den ältesten Zeiten bis zum Ausgang des 10. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung
34 Vgl. S. 132ff. Literatura ceskä XIX. stoleti, 2. Aufl. 19x7, Bd. I, S. 152E