Friedrich Sieber — Dresden
Die Deutung des „Todaustreibens“ („Todaustragens“)
in Jacob Grimms Deutscher Mythologie
und in der neueren Forschung
I.
„Die Völker hängen und halten fest am Hergebrachten; wir werden ihre Über
lieferung, ihren Aberglauben niemals fassen, wenn wir ihm nicht ein Bett noch auf
heidnischem Boden unterbreiten.“ 1 Mit diesen schlichten, unpathetischen Worten
umreißt Jacob Grimm wie im Nebenbei das Arbeitsziel seiner Deutschen Mythologie.
Der Begriff der Rekonstruktion germanisch-deutscher Mythologie und Mythik wäre
für die vorsichtig tastende Arbeitsweise des Werkes zu scharf konturiert.
Alle Arten geistiger Äußerung stellt Grimm in den Dienst seiner Untersuchung.
Am liebsten handhabt er den Zauberstab der Sprachausdeutung, um versiegelte
Zeugen zum Sprechen zu bringen. Doch ebenso spürt er den halbverwehten Spuren
des „innerdeutschen Altertums“ in früher Dichtung nach, in Heldensage und Volks
sage, Märchen, Genealogie, Rechtsverhältnissen, in Sitte und Brauch, Volks
glauben, Spruch und Segen und Spiel. Dabei muß ihm Altüberliefertes Neueres er
hellen, und Neueres muß ihn zu Ursprünglichem zurückführen. Doch nicht nur die
einheimische Überlieferung nützt er für sein Vorhaben. „Völker grenzen an Völker.
Friedlicher Verkehr, Krieg und Eroberung verschmelzen ihre Schicksale.“ 2 Vor
allem im Vergleich mit der Mythologie der Griechen und Römer, der Kelten,
Slawen, Litauer, Esten und Finnen sucht er die Welt des „einheimischen Heiden
tums“ zu erhellen und öffnet so Horizonte wie keiner vor ihm. Als hochgespannter
Bogen wölbt sich die junge Erkenntnis indogermanischer Urgemeinschaft über dem
ausgreifenden Werk, das einen in Jacob Grimms Schätzung grundlegenden Kultur
bereich, nämlich den Bereich der Glaubenswelt im germanisch-deutschen Altertum,
zur Darstellung bringen will. In der Hochform fest konturierter Götter und Helden,
in wandelreichen mythischen Wesen, in Elementen, in Bäumen, Tieren, in Himmel
und Gestirn, im Gang des Tages und der Gezeiten, im Schicksal, in Krankheit tritt
in jener Frühzeit Heil und Unheil dem Menschen gegenüber und rührt ihn an. Dieses
Gegenüber wird von Grimm sachlich nüchtern in Namen, Art, Wirkweise erfaßt
und ohne mystifizierende Schwärmerei hingestellt. Und doch bringen ihm seine
Untersuchungen tiefe persönliche Befriedigung: „Mir widerstrebt die hoffärtige An-
1 Mythologie I, Vorrede S. VI. Wir zitieren die Deutsche Mythologie nach dem unver
ändert photomechanischen Nachdruck der vierten Ausgabe, besorgt von E. H. Meyer.
Tübingen 1955.
2 Mythologie I, Vorrede S. XIX.