Buchbesprechungen
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wichtigen Vergleich mit den Alteingesessenen und ehemaligen Bergdörflern ge
schaffen, deren Vorstellungen und Möglichkeiten, Wünsche und Sorgen, werden
sie ausschließlich auf der Folie der „Versuche neuen Daseins“ betrachtet, not
wendig defizitär erscheinen müssen. Ein solcher Vergleich aber kommt, in An
sätzen, nur in dem abschließenden, profunden Aufsatz über Anspruch und Wirk
lichkeit gegenwärtiger Landkommunen vor.
Berlin (West) Rolf Lindner
Märchenerzähler — Erzählgemeinschaft. Im Auftr. d. Europ. Märchengesellschaft
hrsg. V. Rainer Wehse. Kassel: Erich Röth-Verlag, 1983, 184 S. (Veröffent
lichungen d. Europäischen Märchengesellschaft, Bd. 4).
Der Titel des Sammelbandes mit fünfzehn Abhandlungen von Märchenforschern
und Märcheninteressierten ist der berühmten Veröffentlichung „Märchen, Erzähler
und Erzählgemeinschaft“ von Linda Dégh (Berlin 1962) entlehnt. Der Hrsg.,
Rainer Wehse , versteht seine unter dem Patronat der Europäischen Märchengesell
schaft (der früheren „Gesellschaft zur Pflege des Märchengutes der europäischen
Völker“) erschienene Kollektion in der Tradition der „Biologie des Erzählguts“
oder Erzählerforschung, um die sich gerade L. Dégh sehr verdient gemacht hat.
Entgegen der Ansicht Wehses kann man diese Richtung der volkskundlichen Er
zählforschung durchaus der Kontextforschung zuordnen. Der Sammelband will
die vielfältigen Zugangs- und Wirkungsmöglichkeiten des Märchens, auch im
,zweiten Dasein 1 , als „ein Stück aktueller Gegenwartskunde“, eventuell als „Indi
kator einer gesellschaftlichen Wende“ im heutigen veränderten Wirkungsrahmen
aufzeigen und weniger eine theoretisierende, als vielmehr eine in direktem Kontakt
mit Erzählern und Zuhörern erhobene Zusammenstellung wissenschaftlicher und
praxisbezogener Erfahrungen sein.
Bereits im ersten Beitrag liefert Wehse selbst einen theoretisierenden, wissen
schaftsgeschichtlichen Abriß der volkskundlichen Erzählerforschung bis hin zu
L. Déghs und Andrew Vdzsonyis „Conduit-Theorie“. Das hier angerissene Fach
niveau wird in den folgenden Beiträgen weitgehend nicht erreicht. Leza Uffer,
Maria Hornung, Walter Kainz, Alfred Cammann, Marianne Klaar und Felix Kar-
linger referieren lediglich anschaulich über ihre Aufzeichnungen mündlicher Über
lieferung, die teils in weit zurückliegender Zeit stattfanden, als Industrie und
Technik das traditionelle Erzählen noch nicht verdrängt hatten. Der nostalgisch-re
trospektive Grundzug dieser Darlegungen wird in anderen, mehr psychologisch
orientierten, von einem rationalitäts- und intellektualismusfeindlichen abgelöst:
Felicitas Betz behandelt die von ihr postulierte Aufgabe gegenwärtiger „Märchener
zähler nach dem Ende der mündlichen Überlieferung, ... in die spezifischen Be
dürfnisse von heute hineinzusprechen“, und stellt der sogenannten „rationalisti
schen Denkspur“ die durch das Märchen zu befriedigende „geistige Schaukraft“ des
Menschen entgegen. Ähnlich wendet sich Jürgen Janning gegen die „durch und
durch rationalisierte Gesellschaft“ unserer Zeit und propagiert das Erzählen „als
wirkhchkeitsstiftende und -interpretierende Handlung“ sowie das Erlernen des öf
fentlichen Erzählens vor fremdem Publikum mit Hilfe spezieller Übungsme
thoden. Johanna von Schulz berichtet mit an dieser Stelle eigenartig wirkenden Sei-