Baedeker und andere Reiseführer
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^ a ß sie falsch informieren oder unpräzise beschreiben, sei es, daß sie einfach unbe
holfen formulieren oder gar Themen abhandeln, die niemanden wirklich interes
sieren.
Stellvertretend seien weitere Beanstandungen an Reiseführern zitiert. Zunächst
Originalton Roland Barthes zum Zusammenhang von Reiseführern und bourgeoi-
Se m Kulturbegriff aus dem 19. Jahrhundert: „Der Blaue Führer kennt die Land-
Sc haft kaum anders als unter der Form des Malerischen. Und malerisch ist alles,
^ as uneben ist. Man begegnet hier der bürgerlichen Rangerhöhung des Gebirges
Nieder, dem alten Alpenmythos (er stammt aus dem 19. Jahrhundert), den Gide zu
Kecht mit der helvetisch-protestantischen Moral in Verbindung brachte und der
^mer wie eine bastardhafte Mischung von Naturismus und Puritanismus wirkt
(Erholung durch die reine Luft, moralische Ideen beim Anblick der Gipfel, der
Aufstieg als Bürgertugend usw.).“ 3 Und angesichts dieser reinen Atmosphäre stören
die Menschen; hier werden sie — das heißt: die Bewohner des besuchten Landes —
mehr oder weniger überflüssig. Allerdings nicht ganz, denn immerhin, so Barthes
Leiter, haben sie eine konkrete Funktion zu erfüllen, die sich in folgender Ein
schätzung ausdrückt: „Sozial gesehen, existieren die Menschen für den Blauen
Eührer nur in den Zügen, wo sie eine dritte ,gemischte“ Klasse bevölkern. Im übri-
§ e n sind sie nur dekorativ, sie bilden ein anmutiges (kostenloses) romantisches De
kor, das dazu bestimmt ist, das Wesentliche des Landes zu umgeben: seine Monu
mente.“ 4 Kommt der Bevölkerung eines touristischen Zielgebietes eine solcherma
ßen untergeordnete Rolle zu, so gelangt Barthes zu der Schlußfolgerung, der Blaue
Führer antworte „in Wirklichkeit auf keine Frage, die ein moderner Reisender sich
Hellen kann, wenn er ein Land, das fortbesteht, durchquert. Die Auswahl der
Denkmäler beseitigt die Wirklichkeit der Erde und zugleich die der Menschen, sie
berücksichtigt nichts Gegenwärtiges, das heißt Geschichtliches, und dadurch wird
das Denkmal selbst unentzifferbar und somit stumpfsinnig.“ 5
Leider unterläßt es der Autor, zu erklären, auf welche Ausgaben oder Auflagen
°der Jahrgänge der Blauen Führer er sich bezieht. Vielleicht soll aber die eindeutige
Verallgemeinerung bedeuten, daß sich seit den ersten Bänden nichts Wesentliches
an Inhalt und Form geändert hat, daß die in den Blauen Führern vermittelte Ideolo
ge gleich geblieben ist?
Barthes’ Einschätzungen erinnern an Ferdinand Ranfts Kritik an Nagels
Fnzyklopädie-Reiseführer Bundesrepublik Deutschland, welche auf drei zentrale
Punkte hinausläuft: der Band präsentiere ein Land ohne Menschen, eine dement-
brechend tote Museumslandschaft, ein Land, an dessen Straßen sich Denkmäler,
Kirchen, historische Bauten, nicht aber menschliche Behausungen aneinanderreih
3 Roland Barthes: Der „Blaue Führer“. In: ders.: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main 1964.
S. 59—63. Flier S. 59.
4 Ebd. S. 60.
3 Ebd. S. 61.