Buchbesprechungen
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ROBERT MuCHEMBLED, Die Erfindung des modernen Menschen. Gefühlsdifferenzierung
und kollektive Verhaltensweisen im Zeitalter des Absolutismus. Aus dem Französischen
von Peter Kamp. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1990. 444 S. (rowohlts enzyklopädie, kul-
turen & ideen, Bd. 510).
Der Titel des Buches ist wörtlich zu verstehen: Muchemhled entwickelt die These und
will sie mit seiner Untersuchung für Frankreich begründen, der „moderne Mensch“ sei Er
gebnis eines gezielten und gesteuerten Prozesses der „Zivilisation der Sitten“, ein Prozeß, der
sich zwischen dem Ende des Mittelalters und der Französischen Revolution vollzog. Er
knüpft dabei an Norbert Elias an, ist aber mit Recht der Auffassung, es genüge nicht, sich
wie dieser im wesentlichen auf die gesellschaftlichen Eliten zu beschränken. Vielmehr be
zieht er „die erdrückende Mehrheit der Bevölkerung“ mit ein, „jene ländlichen und städti
schen Massen, die die Entwicklungen nachvollziehen und auf sie reagieren“ (S. 11).
Damit ist zugleich das Grundmodell seiner Argumentation angedeutet. Die Eliten (Hof,
Adel, Klerus, Bürgertum), im 15. und 16. Jahrhundert ähnlich gewalttätig, körperlich unge
pflegt und ausschweifend wie das Volk, verfeinerten vor allem im 17. und 18. Jahrhundert
ihre Sitten und entwickelten neue, anspruchsvolle Verhaltensnormen. Sie versuchten, beides
auch beim Volk durchzusetzen, u. a. durch den Aufbau einer zunehmend effektiver arbei
tenden Strafjustiz. Dies gelang indes nur zu einem Teile, und so öffnete sich zwischen Eliten
und dem von diesen als gemein und wild empfundenen und bezeichneten Volke ein im Lau
fe der Zeit breiter werdender Graben, eine betonte soziale Distanz, die sich in den Klassen
kämpfen des 19. Jahrhunderts fortsetzte. Eine zentrale Rolle in diesem ganzen Prozeß spiel
ten der absolutistische Staat und, im und über den Klerus, die Erneuerung der katholischen
Kirche nach dem Tridentinum.
Was hier einfach klingt, wird im Buch vielfältig verschlungen und hoch differenziert dar
gestellt und durch eine Fülle von Beispielen illustriert. Muchembled kennt die Quellen wie
die Literatur und macht davon reichen Gebrauch. So liest sich das Buch gut, streckenweise
sogar spannend. Freilich gerät durch die Vielfalt der Belege und die Differenzierung der Ge
dankenführung die Argumentation bisweilen in Gefahr, an Stringenz zu verlieren. Eine
straffe Gliederung in sechs große Kapitel wirkt dem entgegen: Die ersten drei behandeln die
Grundzüge der Entwicklung, das vierte bis sechste die Formen, in denen sie sich vollzog.
Im einzelnen geht der Autor im entwicklungsgeschichtlichen Teil grundsätzlich chronolo
gisch vor, schiebt freilich immer wieder längere systematische Abschnitte ein, um wichtige
Erscheinungen zu charakterisieren. So sind reizvolle Studien etwa über Kunst (Genremale
rei) und Literatur im 16. Jahrhundert oder über die Herausbildung der Strafjustiz entstan
den. Die Formen der Entwicklung werden nicht in strenger Systematik, sondern in charak
teristischen Beispielen vorgetragen. Dabei stehen im 4. Kapitel der Körper, im 5. die Fami
lienbeziehungen (besonders das Verhältnis Väter—Söhne) und im 6. die Herausbildung
„kollektiver Sensibilitäten“, die sich in Kulturen verdichteten, im Vordergrund. Alle Kapitel
sind überreich an z. T. überraschenden Beobachtungen und Einblicken in das allmähliche
Entstehen des „modernen Menschen“, wie Muchembled es begreift. Der Raum verbietet es,
darauf hier näher einzugehen.
Das Buch gehört in eine (weit verstandene) Geschichte der Mentalitäten. Muchembled
arbeitet mit Fragestellungen und Methoden der historischen Anthropologie, streckenweise
auch mit den Kategorien der Freudschen Psychoanalyse. Beides verleitet dazu, Theorien zu
bilden, die sich nur allzu leicht vom Boden der Fakten lösen. Der Autor ist freilich zu sehr
Historiker, um sich auf solche luftigen Spekulationen einzulassen. Andererseits zeigt er sich