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Full Text: Zeitschrift für Volkskunde, 88.1992

Die Straße lebt. 
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dicht belebte Straße ein relativ wirksamer Schutz vor Raubüberfällen und Verge 
waltigungen. 
Street Life übernimmt in großem Maße auch soziokulturelle Funktionen. Weil 
im Slum kommerzielle und öffentliche Kommunikations- und Freizeitangebote 
weitgehend fehlen, füllt Street Life die Lücke. Musik, Tanz, Unterhaltung im wei 
testen Sinne machen Street Life attraktiv. Die Straße wird zur Bühne, auf der man 
sich darstellen kann, seine Kompetenz im „rapping“ und „styling“, afro-amerika- 
nischen Formen verbaler Performanz, beweisen kann. „We got our very own Be 
verly Hills here“, sagt die 25jährige Elaine L., weist mit Ironie auf die herunterge 
kommene Straße, in der sie lebt, und fügt hinzu, „I always wanted to be an actress“. 
Die Straße ist schließlich auch Ort der kollektiven Identitätsarbeit — die „Street 
people“ setzen gegen die stigmatisierte Reputation des Slums die für sie positiv be 
setzte Identität ihrer Straße, ihres Blocks: üblicherweise partizipiert man am Street 
Life dort, wo man wohnt, direkt vor der eigenen Haustür, an der nächsten Straßen 
ecke. Individuelle Selbstdarstellung und kollektive Rede sind verflochten, in spon 
tanen „Street córner rap sessions“ oder „bochinche“ werden persönliche Erlebnis 
se in einen gemeinsamen Erfahrungsschatz integriert und in der Gruppe ein Bild 
der Wirklichkeit des Slums konstruiert, das der räumlich und sozial extrem frag 
mentierten, von unvorhersehbarer Gewalt geprägten Umwelt einen Sinn, eine kul 
turelle Ordnung gibt. Dieser Diskurs ist stark raumbezogen und raumbildend, er 
scheidet gefährliche von risikoarmen Orten und ist der Schlüssel zur sozialen Or 
ganisation des Raumes im Slum. 
Die 1985 durchgeführte Forschung in einem exemplarisch ausgewählten Stra 
ßenabschnitt des Stadtteils Bushwick im Bezirk von Brooklyn, New York, war 
kulturanthropologisch angelegt und unternahm es, das Undurchsichtige des Street 
Life aufzuschlüsseln und in einer Ethnographie 2 transparent zu machen. Warum 
hat ein Teil der Bewohner städtischer Slums, für die Bushwick nur ein Beispiel ist, 
ihr Alltagsleben nach draußen verlegt, so daß die Straßenschluchten zwischen den 
Fassaden von den ersten Frühlingstagen im März bis spät im November widerhal 
len von Lachen und Geschrei, Radiomusik und Autohupen? Die Studie schlägt 
vor, diese soziale Praxis kulturökologisch als eine alltagsweltliche Strategie der 
Raumaneignung zu interpretieren, die sich adaptiv-anpassend und kreativ-eingrei 
fend mit der Umwelt auseinandersetzt. Diese Umwelt ist die mit vielfältigen Defi 
ziten behaftete des großstädtischen Slums. Street Life überwindet deren Mängel, 
gleicht sie aus und verändert damit die „dissatisfaktionierende“ Umwelt in eine, 
die durchaus Ressourcen zur Befriedigung von Lebensbedürfnissen bietet. Die Stu 
die zeigt im einzelnen Zusammenhänge auf zwischen den Lücken, die städtische 
Umstrukturierungsprozesse in das Bedürfnisdeckungsangebot des Stadtteils geris 
sen haben, und den Antworten, die das Street Life darauf gefunden hat. 
2 Vgl. Gisela Welz: Street Life. Alltag in einem New Yorker Slum, Institut für Kulturanthropologie 
und Europäische Ethnologie der Universität Frankfurt, NOTIZEN Bd. 36, Frankfurt am Main 
1991.
	        
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