Die Umbenennung der Vergangenheit
Oder: Die Politik der symbolischen Architextur der
Stadt Ost-Berlin 1990-1991*
Von Maoz Azaryahu, Tel Aviv
„Es gibt kein Andenken an die Früheren.
Und auch an die Späteren, welche sein
werden, wird es kein Andenken geben bei
denen, die noch später werden
(Altes Testament, Der Prediger 1, 11)
In der Stadtlandschaft tragen Straßennamen zusammen mit Denkmälern und
Gedenktafeln zu einer semiotischen Präsenz der herrschenden Ideologie bei, in
dem sie der städtischen Architextur einen besonderen Symbolgehalt verleihen.
Straßennamen können als Geschichtstexte einer Nation gelesen werden und bilden
deshalb einen Text des National-Narrativs. Die Benennung und Umbenennung
von Straßen ist ein Beispiel dafür, wie politische Prozesse auf semiotische Prozedu
ren einwirken. Im folgenden werden verschiedene symbolanalytische Aspekte der
Umbenennung der DDR-Vergangenheit in Ost-Berlin nach der ,Wende‘ in ihrem
historischen Kontext dargelegt und gedeutet.
Theoretische Einführung
Straßenschilder, die der Verehrung und Verewigung von herausragenden Persön
lichkeiten dienen, haben seit dem Zeitalter des Nationalismus an Bedeutung zuge
nommen. Straßennamen sind offizielle Ubermittler ideologischer Inhalte von na
tionaler Bedeutung — neben lokalen Beiträgen und Sonderheiten, die sich aus der
Geschichte und der Geographie eines Ortes ableiten. Straßennamen gehören dem
dezidierten Bereich semiotischer Strukturen der Ideologie an. Sie sind eine wörtli
che Manifestation des National-Narrativs, das sich auf den offiziellen Bereich der
Semiosphäre auswirkt.
Die Vergangenheit ist ein kulturelles Produkt, das dazu dient, die herrschende
sozio-politische Regierungsform zu legitimieren. * 1 Die Vergangenheit — stets eine
* Der folgende Beitrag entstand im Rahmen des von der Deutsch-Israelischen Stiftung für Wissen
schaftliche Forschung und Entwicklung geförderten Projekts der Universität Tel Aviv „Nationa
lism and Sacred Space and Time“.
1 Zur Legitimierung der etablierten Herrschaftsform, ohne in besonderem auf die Rolle der Vergan
genheit einzugehen, siehe: Pierre Bourdieu: Outline of a Theory of Praxis, Cambridge 1977,