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Natur | Kultur
Überlegungen zu einer relationalen Anthropologie *
Von Stefan Beck, Berlin
Nicht immer habe die Person in der Haut
ihre wichtigste Grenze gesehen; dies
anscheinend erst, seit ihr Verkehr mit der
Welt sich so unerwartet erschwert habe
Der seit den 70er-Jahren für seine Thesen zur „Soziobiologie“ 2 bekannte Bio-
l°ge Edward O. Wilson veröffentlichte 1998 ein viel beachtetes Buch, in dem er
Zu zeigen versuchte, dass das von Naturwissenschaftlern geknüpfte kausale Erklä
rungsnetzwerk, das von der Quantenphysik bis zur Hirnforschung, von der Che-
ruie bis zur Medizin reiche, inzwischen „die Schwelle zur Kultur berühre: Dieses
Netzwerk kausaler Erklärungen habe nicht nur „die Grenze erreicht, die die Natur
wissenschaften von den Geistes- und Sozialwissenschaften trennt“, sondern reiche
ruit der Hirnforschung, der Genetik und der „Epigenetik des Verhaltens weit in
die angestammten Domänen der „humanities“ hinein. 3 Daher sei es an der Zeit,
uicht nur diese Grenzregion neu zu bestimmen, sondern in Kooperation mit den
Human- und Sozialwissenschaften in dieses Niemandsland zwischen „Natur und
»Kultur“ Forschungsexpeditionen zu organisieren. Wilsons Einladung zu gemein
samen epistemischen Abenteuern ist dabei motiviert von einem aufklärerischen
Wissenschaftsideal, das die Einheit der wissenschaftlichen Rationalität vor allem
durch einen Erklärungstyp garantiert sieht, der als methodischer oder epistemischer
Beduktionismus A bezeichnet werden kann: Psychologische Phänomene werden dem-
na ch durch die Analyse von neuronalen Aktivitätsmustern erklärbar, das Verhalten
individueller Nervenzellen durch biochemische Prozesse, diese wiederum können
durch physikalische Gesetzmäßigkeiten erklärt werden. 5
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Dieser Text lag meiner am 5.2.2008 gehaltenen Antrittsvorlesung am Institut für Europäi
sche Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin zugrunde.
Christian Enzensberger: Größerer Versuch über den Schmutz. Frankfurt a. Main 1980, S. 11.
Edward O. Wilson: Sociobiology. The New Synthesis. Cambridge Mass., London 1975.
Edward O. Wilson: Die Einheit des Wissens. Berlin 1998, S. 169—219; vgl. auch ders.: How
to Unify Knowledge. Keynote Address. In: Antonio R. Damasio u. a. (eds.): Unity of
knowledge: the convergence of natural and human science. (= Annals of the New York Aca
demy of Sciences 935/1 [2001]) New York 2001, S. 12-17.
Hanne Andersen: The history of reductionism versus holistic approaches to scientific re
search. In: Endeavour 25/4 (2001), S. 153-156.
Für die Molekularbiologie formulierte dieses Credo Francis Crick, der maßgeblich die Struk
tur der DNA analysierte, pointiert: „The ultimate aim of the modern movement in biology
is to explain all biology in terms of physics and chemistry.“ (Of molecules and man. Seattle
D66, S. 10). Vgl. grundlegend zu dieser Denkfigur Ernest Nagel: The structure of science.
Problems in the logic of scientific explanation. Indianapolis 1961; Paul Oppenheim, Hilary